Schief stehen sie im Leben
Aus diesen Zutaten hat das E.T.A.-Hoffmann-Theater schon viele beglückende Theaterabende entwickelt. Dieses Mal aber wollten sich die Zutaten zu keinem stimmigen Ganzen fügen. Gemessen daran, was das E.T.A.-Hoffmann-Theater zu leisten imstande ist, war der Abend eine Enttäuschung.
In „Appropriate (Was sich gehört)“ erzählt der Autor Branden Jacobs-Jenkins von einer dysfunktionalen amerikanischen Familie und ihrem Umgang mit dem kontaminierten Erbe ihres Familienoberhaupts. Die Figuren mögen einander nicht. Nicht einmal sich selbst können sie ausstehen. Schief stehen sie im Leben.
Nach dem Tod des Patriarchen finden sie in der alten Familienvilla ein letztes Mal zusammen. Das Anwesen soll veräußert werden. Die Nachkommen vermögen es nicht, ihre finanziellen Interessen zu verbergen. Sie bemühen sich erst gar nicht darum. Bis hierhin bewegt sich die Inszenierung von Sibylle Broll-Pape und Dramaturg Armin Breidenbach in den breitgetretenen Pfaden einer Geschichte über begabte und weniger begabte Erbschleicher. Das war nicht ohne situative Komik und sprachlichen Witz, zog sich mit zunehmender Dauer aber wie ein Kaugummi.
Barbara Wurster, Leon Tölle, Jonas Gruber, Jeanne Le Moign, Daniel Seniuk, Wiebke Jakubicka-Yervis und auch Martina Dähne: Sie alle mühten sich nach Kräften. Aber es fehlte ihren Dialogen an Schärfe, den Figuren an Tiefgang und der Handlung an einem scharf gestellten Fokus.
Dann entdecken die über Kreuz liegenden Nachkommen im Nachlass des Patriarchen ein Album verstörender Fotos. Darauf zu sehen sind bei Lynchmorden getötete Schwarze. Das bis dahin ikonenhafte Bild des Patriarchen bekommt Risse, die Selbstwahrnehmung der Nachkommen wankt. War ihr Vater und Großvater ein Rassist? Gründen Besitz und Reputation der Familie auf Sklaverei und einer im Namen weißer Vorherrschaft legitimierten Unterdrückung?
Diese beunruhigenden Fragen fachen die Konflikte zwischen den Nachkommen weiter an. Es geht um Schuld und Verdrängung. Es geht um Lebenslügen, Vergebung und den Wunsch, ein besserer Mensch zu werden. Es geht um vererbte Traumata und die Einsicht, dass sich jeder sein ganz eigenes Bild von der Vergangenheit malt.
Ziellos und überladen
In den Vorwürfen und Gegenwürfen der zerstrittenen Nachkommen sollte sich der gesellschaftliche Großkonflikt um Rassismus und Sklaverei spiegeln, das vergiftete Erbe des Familienoberhaupts stellvertretend stehen für die vergiftete Geschichte Amerikas. So weit die Absicht der Inszenierung.
Aber aufgehen wollte dieses Vorhaben nicht. Das hatte auch damit zu tun, dass sich andere Themen immer wieder über den eigentlichen Kernkonflikt schoben. Dann ging es um Drogen, vegane Ernährung, Selbstbefriedigung, Facebook , gescheiterte Beziehungen und Karrieren. Die Inszenierung verzettelte sich, sie wirkte unsortiert, überladen und deshalb ziellos.
Einmal verwahrt sich Bo Lafayette (Jonas Gruber) in herrischem Ton gegen den in Wahrheit gar nicht artikulierten Vorwurf, als Weißer grundsätzlich schuld am Unglück anderer zu sein. Die amerikanische Soziologin Robin DiAngelo markiert diese Mechanik von Verleugnung und selbstmitleidiger Schuldabwehr mit dem Begriff „weiße Fragilität“.
Diese Diagnose hätte Anlass für einen spannenden Theaterabend sein können. Nur lagen zu diesem Zeitpunkt hinter Ensemble und Publikum bereits eine Spielzeit von über zwei Stunden.
Und trotzdem viel Applaus
Was lief schief an diesem Abend?
Bei der Suche nach einer Antwort dürfen die Vorgänge der vergangenen Wochen nicht unbelichtet bleiben. Die Debatte um ihre verweigerte Vertragsverlängerung dürfte nicht nur Sibylle Broll-Pape immense Kraft gekostet haben.
Auch viele Schauspielerinnen und Schauspieler waren mittendrin. Halb wurden sie hingezogen, halb stürzten sie sich ins Schlachtengetümmel selbst hinein. Es wäre deshalb kein Wunder, wenn es bei den Proben neben Konzentration und gedanklicher Schärfe auch an Leichtigkeit gefehlt hätte.
Und dennoch: Das Premierenpublikum bedachte Regie und Ensemble mit langem Applaus. Diese Beobachtung erlaubt zwei Schlüsse. Variante 1: Das Publikum entdeckte in „Appropriate (Was sich gehört)“ Qualitäten, die dem Verfasser dieses Textes verborgen blieben.
Variante 2: Der große Applaus galt an diesem Abend weniger dem gerade erlebten Stück als der Intendantin und dem, was sie in den acht Jahren ihrer Intendanz mit dem E.T.A-Hoffmann-Theater geschaffen hat.
.