Andrej Kurkows „Samson und Nadjeschda“ weckt Neugier auf mehr
Autor: Sigismund von Dobschütz
Bad Kissingen, Donnerstag, 13. April 2023
Sigismund von Dobschütz Ein Kriminalroman soll es sein. Doch der im Juli 2022 beim Diogenes Verlag veröffentlichte Roman des in Russland geborenen...
Sigismund von Dobschütz
Ein Kriminalroman soll es sein. Doch der im Juli 2022 beim Diogenes Verlag veröffentlichte Roman des in Russland geborenen ukrainischen Schriftstellers Andrej Kurkow (61), den manche mit dem Japaner Haruki Murakami gleichsetzen, ist viel mehr als das: „Samson und Nadjeschda“ ist eine mit liebevoll charakterisierten Protagonisten besetzte Mischung aus Liebesgeschichte, historischem Roman und – ja, letztlich dies auch – einem Krimi . In seinem fast poetisch klingenden Sprachstil fühlt man sich an russische Klassiker erinnert.
Im nachrevolutionären russischen Bürgerkrieg (1918–1922), in dem die sowjetischen Bolschewiken gegen die unübersichtliche Gruppe aus Konservativen, Demokraten, gemäßigten Sozialisten, Nationalisten und Weißer Armee kämpften, hatten die Bolschewiken im Januar 1919 endlich die ukrainische Stadt Kiew erobert. Wenig später begegnen wir auf einer Straße dem jungen Samson und seinem verwitweten Vater ausgerechnet in jenem tragischen Moment, als Samsons Vater von marodierenden Rotarmisten ermordet und ihm selbst mit dem Säbel ein Ohr abgeschlagen wird. Dies ist die Schlüsselszene zum Auftakt einer Krimireihe, in deren Abfolge der nun zum Vollwaisen gewordene Samson eher zufällig und ohne jegliche fachliche Vorbildung in die gerade entstehende sowjetische Polizei aufgenommen wird. Eigentlich wollte er nur die beiden in seine Wohnung einquartierten diebischen Rotarmisten melden. Doch seinem künftigen Vorgesetzten Najden reicht schon Samsons Fähigkeit, gute Berichte zu formulieren, denn trotz aller Revolutionswirren scheint auch bei den Sowjets der Bürokratismus wichtiger als die Aufklärung von Kriminalfällen.
War das von seinen unerwünschten „Untermietern“ in Samsons Wohnung abgestellte Diebesgut bisher sein alleiniges Problem, so wird die offizielle Ermittlung gegen die beiden Diebe nun unerwartet zum ersten Fall des völlig unerfahrenen Polizisten. Schon allein die Tatsache, dass bis zur Aufnahme Samsons in die Polizei und zum Beginn seiner Ermittlungsarbeit etwa 90 der 370 Seiten zu lesen sind, lässt erkennen, das nicht der Kriminalfall im Zentrum des Romans steht, sondern Samsons Ermittlungen nur dem Roman seinen gestalterischen Rahmen geben.
Alltagsleben 1919 in Kiew
Im Grunde geht es dem Autor um die Darstellung der politisch wie gesellschaftlich vielschichtigen Situation in den Wirren des Bürgerkriegs, in dessen Verlauf es für die Bürger Kiews ziemlich unübersichtlich war, wer sie gerade beherrschte. Man tauschte zum Leben, was von Wert war, oder zahlte mit unterschiedlichen Währungen, verausgabt von bisherigen Regierungen, wobei der alte Rubel des untergegangenen Zarenreichs immer noch die stabilste Währung blieb.