Entscheidung in Zirndorf: Wer bekommt Asyl und wer nicht?
Autor: Christoph Hägele
Zirndorf, Freitag, 24. Juli 2015
Thiels Job ist es, über die Asylanträge von Flüchtlingen zu entscheiden. In seinem Zirndorfer Büro sitzen ihm Menschen gegenüber, die mitunter die Hölle auf Erden erlebt haben. Mitleid oder Schuldgefühle darf er sich trotzdem nicht erlauben.
Dass sich die Lebenswege von Thiel und dem jungen Kosovaren kreuzen, ist für den Deutschen Teil seines Berufs, für den anderen die Chance auf ein neues Leben. Thiel hat einen Vornamen, aber den möchte er nicht in der Zeitung lesen: "Ich bin zwar noch nie bedroht worden. Aber ich will es auch nicht herausfordern."
In der Zirndorfer Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) entscheidet Thiel über die Anträge von Asylbewerbern. Es gibt wohl nur wenige Berufe, in denen sich die menschlichen Dramen mit einer ähnlichen existenziellen Wucht entfalten. In den Gesprächen muss der 38-Jährige herausfinden und bewerten, was die Asylbewerber in Deutschland suchen: Schutz vor Verfolgung und Krieg oder lediglich ein wirtschaftlich besseres Leben. Er kann sich später mit seinen Kollegen beraten, aber am Ende muss Thiel seine Entscheidung allein treffen.
An einem heißen Sommervormittag richtet sich Thiels tiefe Stimme nun an den jungen Kosovaren: "Das ist jetzt der wichtigste Teil Ihres Asylverfahrens. Sie haben die Gelegenheit, Ihre Gründe für die Ausreise darzulegen." Der junge Mann müsse bei der Wahrheit bleiben und zudem vollständig aussagen.
Ein Leben auf zwei Seiten Papier
Der junge Kosovare versteht nicht, was Thiel sagt, aber neben ihm sitzt eine Dolmetscherin, die ihm Thiels Aussagen und Fragen Satz für Satz übersetzt.
Der Kosovare, der an einem kleinen Tisch vor Thiel sitzt, ist Anfang 20. Thiel will seinen Namen wissen, seinen letzten Wohnort im Kosovo, seine Fluchtroute und auch, wo sein Pass ist. Thiel fragt, die Dolmetscherin übersetzt, der Kosovare antwortet, die Dolmetscherin übersetzt zurück ins Deutsche, Thiel nickt und schreibt mit. "Warum haben Sie hier Asyl beantragt? Warum möchten Sie nicht zurück in den Kosovo?" Der junge Mann spricht leise, in kurzen Sätzen, fast schon teilnahmslos. Vielleicht ahnt er, dass er kaum eine Chance haben wird, Thiel von seiner Schutzbedürftigkeit zu überzeugen.
Er habe im Kosovo keine Ausbildungsstelle gefunden. "Hoffnung auf ein besseres Leben", übersetzt die Dolmetscherin. Thiel nickt und blickt den Kosovaren offen an. "Weitere Gründe?" Er fragt das zwei Mal. "Nein", sagt der junge Mann. Thiel spricht seine Notizen in ein Mikrofon, das mithilfe einer Sprachsoftware das Gesagte in Schrift verwandelt: "Ich bin in der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Deutschland gekommen. Punkt. Ich möchte hier eine Ausbildung abschließen. Punkt." "Möchten Sie noch etwas sagen?" - "Nein."
Alles, was der junge Kosovare gesagt und Thiel daraufhin notiert hat, findet Platz auf zwei DIN-A4-Seiten. Sie sind die Grundlage, auf der Thiel später seine Entscheidung über den Asylantrag fällen wird. Thiel wird sich nochmals über die Akte beugen, aber im Grunde weiß er schon jetzt, wie er entscheiden wird: "Wirtschaftliche Gründe reichen nicht für Asyl. Und sonst hat der Antragssteller nichts vorgebracht."
Beschleunigte Verfahren
Viele Anhörungen gehen über Stunden und Tage, diese hat gerade einmal 20 Minuten gedauert. Schon in den folgenden Tagen wird der junge Mann Post von Thiel bekommen. Darin wird voraussichtlich in nüchternen Worten stehen, dass sein Antrag auf Asyl abgelehnt worden ist. Wie viele Ablehnungen auf einen positiven Bescheid kommen, möchte Thiel für sich behalten. Kein Geheimnis dagegen ist, dass Thiel derzeit deutlich mehr Anträge ablehnt, als dass er ihnen zustimmt.
In Zirndorf hört Thiel Menschen aus der Russischen Föderation an, aus der Ukraine, Georgien und Pakistan. Das Gros seiner Antragsteller kommt aber schon seit Längerem vom Westbalkan. Das ist der Grund, weshalb die Anträge von Kosovaren, Serben, Roma oder auch Mazedoniern Priorität für Thiel genießen. Mit beschleunigten Verfahren will die Staatsregierung ein unmissverständliches Zeichen an Ausreisewillige auf dem Westbalkan senden.
Bis zu fünf Asylbewerber sitzen Thiel täglich in seinem Zirndorfer Büro gegenüber. Dennoch wird der Stapel mit den Asylanträgen auf seinem Schreibtisch von Tag zu Tag größer. Allein in diesem Jahr erwartet das BAMF 400 000 neue Asylbewerber in Deutschland.
"Bei fünf Anhörungen am Tag ist aber die Grenze erreicht. Würde ich mehr Asylbewerber anhören, würde das auf Kosten der Sorgfalt gehen." Viel Mühe auf die Einrichtung in Thiels Büro hat das BAMF nicht verwendet: Die Wand ist sandfarben, der Boden aus Linoleum und der Schreibtisch voller Akten. Alles in diesem Raum atmet den Geist von Effizienz und funktionaler Sachlichkeit.
Aber das Leben bricht sich hier ohnehin von selbst Bahn, dazu müssen die Asylbewerber nur zu erzählen beginnen. "Wenn sie über Folter, Krieg und Vergewaltigungen sprechen, geht mir das nahe", sagt Thiel.
Neugier und Empathie
Vor seinen Anhörungen informiert sich Thiel regelmäßig in der internen Datenbank Milo über Verhältnisse in den betreffenden Ländern. Maßgeblich für seine Entscheidung bleibt dennoch ausnahmslos das individuelle Schicksal des Antragstellers.
Thiel darf deshalb nicht die unterschiedlichen Flüchtlingsgruppen - hier die kriegsversehrten Syrier, dort die Flüchtlinge aus dem stabileren Kosovo - gegeneinander ausspielen. Er darf auch nicht in Wahrscheinlichkeiten oder Mustern denken, sondern muss sensibel bleiben für die besonderen Umstände jedes einzelnen Antrags. Das erfordert Neugier, Einfühlungsvermögen und auch ein großes Verantwortungsbewusstsein.
Vor Mitleid oder sogar Schuldgefühlen schützt Thiel indes die formale Strenge des Verwaltungshandelns. "Jeder Asylbewerber verdient ein faires und gründliches Verfahren. Das ist, was ich ihm bieten muss." Viele seiner Kollegen sprechen regelmäßig mit einem Psychologen über den Druck und die Verantwortung, die mit dem Job eines Entscheiders einhergehen. Thiel spürt dieses Bedürfnis bislang nicht. Vielleicht auch deshalb, weil er im Zweifel immer im Sinne des Antragstellers entscheidet. Dann, wenn er die vorgetragenen Fluchtgründe nicht abschließend auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen kann und auch die Expertise des Auswärtigen Amts nicht weiterhilft.