Sie macht sich selbst Beine
Autor: Diana Fuchs
LKR Kitzingen, Donnerstag, 04. Juni 2020
"Sowas traut man einer kleinen, dicken Frau nicht zu." Wie Julia Gais-Lemmer ihren "Prachtweib-Arsch" vom Sofa kriegt.
Sie ist stärker als ihre Ausreden. "Ich gebe mir jeden Tag einen Tritt in den gut gepolsterten Prachtweib-Arsch", sagt Julia Gais-Lemmer. Dann zieht sie ein Paar ihrer Laufschuhe an, geht hinunter an den Main und beweist sich: In diesem Körper steckt mehr als die meisten Menschen denken.
Die 43-Jährige war nie besonders schlank. Schon immer hat sie gern gegessen "Du bist zu dick", hörte sie als Kind oft. "Die Botschaft, die bei mir ankam, war: 'Du bist nicht liebenswert, so wie du bist'. Trotzdem wog ich irgendwann über 160 Kilo. Ich wurde einfach immer mehr, egal, was oder was ich nicht gegessen habe."
Ihr Leben wurde leichter, als eine Hormonerkrankung diagnostiziert wurde. Die junge Frau schaffte es, einen großen Teil des Gewichts wieder loszuwerden. Richtig dünn wurde sie aber nicht. "Mein Glück war, dass ich einen Mann kennenlernte, der mich genau so liebte, wie ich war", sagt die Fränkin. "Er hat mir klar gemacht: Mein Selbstwert kann nicht von meinem Gewicht abhängen. Deshalb muss ich nicht angepasst sein und in Normen passen. Ich bin gut, so wie ich bin."
Diesen zentralen Lebensgrundsatz wollte die gelernte Fremdsprachenkorrespondentin und Bürokauffrau, die in ihrer Freizeit Bücher schreibt, nie wieder vergessen. Deshalb ließ sie sich mit Mitte 30 ein Tattoo auf den Unterarm stechen. Ein Wort soll sie immer an ihr Credo erinnern: "Vollblutweib".
Als solches reiste sie vor acht Jahren zum Berlin-Marathon - als Zuschauerin. "Ich war so fasziniert von der Atmosphäre, dass ich beschloss: Ich will laufen lernen." Sie befolgte den Rat eines Freundes mit langjähriger Marathon-Erfahrung und ließ zunächst eine professionelle Gang-Analyse machen. Auf professionellen, gelenkschonenden Sohlen ging es wenig später los. "Am Anfang soll man so laufen, dass man sich dabei noch ganz normal unterhalten kann. In meinem Fall hieß das quasi: kriechen." Ihr bissig-burschikoser Humor macht auch vor dem eigenen Körper nicht Halt - gerade vor ihm nicht. "Ich habe den sich wild wehrenden inneren Schweinehund hinter mir hergezerrt wie eine dicke Bäuerin ihren sturen Esel."
Mit der Zeit klappte das Laufen immer besser. "Es war toll: Es bildeten sich Muskeln!" Doch zeitgleich mit seiner Besitzerin wurde auch der Schweinehund stärker. Dann zog sich die Kitzingerin auch noch zwei "Frozen Shoulders" zu: Ihre Schultern versteiften und schmerzten bei jeder Bewegung. "Anfang dieses Jahres konnte ich meine Arme kaum noch anheben." Als das Schlimmste überstanden war, stand für die 43-Jährige fest: "Ich will mich wieder bewegen!" Die einfachste Methode, fit zu werden, erschien ihr das Laufen zu sein: "Es kostet wenig, man kann es immer machen, und es beflügelt einen mit der Zeit richtig - das hatte ich ja schon einmal erlebt."
Der Wiedereinstieg war nicht leicht, aber Julia Gais-Lemmer war motiviert. "Das ist das Wichtigste: Dass man alles Demotivierende ausschaltet, immer wieder, und sich ganz auf sich konzentriert. Wie bei Momo: ein Atemzug, ein Besenstrich. Ein Atemzug, ein Schritt..."