Notwohngebiet in Kitzingen: Wo Kinder neben Knastbrüdern leben
Autor: Diana Fuchs
Kitzingen, Donnerstag, 01. Februar 2018
In Notwohnungen in Kitzingen leben Obdachlose und Familien auf engstem Raum. Ein Besuch im "Ghetto", wo eine warme Dusche oft ein unerfüllter Wunsch bleibt.
Wenn Jessica Hölldobler ein warmes Essen zubereiten will, darf der alte Mann in der Nachbarwohnung seinen Wasserkocher nicht einschalten. Sonst ist der Strom erst mal weg. Dabei besteht Jessicas "Küche" nur aus einem Campingherd mit zwei Platten, der drei Schritte vom Bett entfernt auf einem selbst gebastelten Holzregal steht. Wenn man auf zwölf Quadratmetern lebt, muss jeder Zentimeter genutzt werden. Mehr noch als das Platz- und Strom-Problem beschäftigt Jessica die Körperhygiene. Die verdreckte Toilette, die vier Mietparteien gemeinsam nutzen, ist für die 35-Jährige ein Graus. "Und eine warme Dusche fehlt mir sehr." Trotzdem versucht sie, gemeinsam mit ihrem 38-jährigen Freund André Lenhart im Kitzinger Notwohngebiet ein "normales" Leben aufrecht zu erhalten.
"Ich habe die Verelendungs-Spirale als Warnung vor Augen", sagt Jessica. Wer ins Notwohngebiet eingewiesen wird, stehe vor elementaren Problemen: "Wie koche ich? Wie spüle ich ab? Wie halte ich die Körperhygiene aufrecht?" Wer keine Lösungen für solche Schwierigkeiten findet, der gerate leicht in einen "Strudel aus überfordert sein und sich aufgeben". Das soll Jessica und André nicht passieren. "Ich habe schon in vielen Gastronomiebetrieben gearbeitet. Nach dem Winter finde ich wieder einen Job!", ist die 35-Jährige sicher. "Ich bin ein Stehaufmännchen." Ob das Geld allerdings reichen wird, um aus dem Notwohngebiet herauszukommen? Jessicas Freund André Lenhart, selbstständiger Schrotthändler, hatte Blasenkrebs. Der Tumor ist entfernt worden, aber André hat noch Schmerzen, ist körperlich eingeschränkt. "Nur mit meinem Gehalt werden wir uns keine andere Wohnung leisten können", befürchtet Jessica. "Auf dem Wohnungsmarkt in Kitzingen herrschen fast schon obszöne Wucherpreise." Ohne "Vitamin B" sei kaum eine bezahlbare Wohnung zu bekommen.
Jessica und André leben in einem von vier Notwohnblocks, die Anfang der 60er Jahre am Rand der unterfränkischen 21 000-Einwohner-Stadt Kitzingen gebaut wurden. Insgesamt 120 Schlichtwohnungen, also kleine Wohnungen mit einfachster Ausstattung für sozial schwächere Menschen wie die "Schrottler", die Schrotthändler, die vorher in Holzbaracken dort am Stadtrand gewohnt hatten. Mitte der 80er Jahre begann die Stadtverwaltung damit, auch Obdachlose einzuweisen - zur Aufnahme Obdachloser ist jede Kommune gesetzlich verpflichtet. Aktuell sind in den Blocks der Egerländer Straße sowie der Tannenbergstraße 107 Menschen mit ganz unterschiedlichen Lebensgeschichten gemeldet. Ziemlich sicher leben auch noch einige nicht Gemeldete da. Es sind Knastbrüder, Verwahrloste und Gewaltbereite darunter, aber auch Familien mit kleinen Kindern, Kranke und Alte. Sie leben Tür an Tür, zwei Drittel ohne Dusche oder sogar ohne fließend warmes Wasser.
Mit 30 bis 40 Personen pro Jahr sind die Obdachlosen in der Minderheit, das Gros sind Dauermieter. Manche zahlen ihre Miete immer pünktlich und halten ihr Umfeld sauber, andere zahlen nicht und machen Dreck. "Alle sozialen Probleme treffen sich hier", sagt Marion Warschecha, eine der ehrenamtlichen Helferinnen vor Ort. Kein Wunder, dass auch die Polizei immer wieder anrücken muss. Drogen und Alkohol tun ihr Übriges.
2015 gingen einige der Bewohner mit selbst gemalten Plakaten auf die Straße. Mit Hilferufen wie "Menschenwürde auch für uns" und "Wir möchten auch duschen" machten sie auf ihre prekäre Situation aufmerksam. Der Protest hatte Erfolg: 2016 wurde der "Wegweiser" eröffnet, ein ehemaliges Café im Notwohngebiet, mit einer Dusche und einer Küche. Ein Team von Ehrenamtlichen ermöglicht regelmäßige Öffnungszeiten. An zwei Abenden pro Woche kann geduscht werden. Oft stehen die Duschwilligen Schlange.
Auch Jessica Hölldobler nutzt diese Chance zur Körperpflege. Außerdem geht sie zum Beispiel ins örtliche Schwimmbad, wo ausgiebiges Duschen kein Problem ist. Jessica ist eine zierliche Person, die aber trotzdem zupacken kann. Sie zeigt, wie sie ihren kleinen Wohn-/ Esstisch zum Spültisch umfunktioniert. "Wer hier wohnt, muss sich zu helfen wissen." Aber warum muss sie überhaupt hier wohnen? "Mit meinem früheren Freund hatte ich eine ganz normale Wohnung gemietet. Dann bekamen wir Streit. Er hat die Schlösser ausgetauscht. Ich stand urplötzlich auf der Straße. Meine Eltern leben nicht hier, Geschwister habe ich nicht. Mir ist nichts anderes übriggeblieben als zur Stadt zu gehen und mich obdachlos zu melden."
"Wie der letzte Dreck"
Seitdem hat die junge Frau erfahren, "dass man oft wie der letzte Dreck behandelt wird, wenn die Leute erfahren, dass man in der 'Egerländer' wohnt". Man werde abgestempelt als "faul, unzuverlässig und selbst schuld". Wegen der hygienischen Bedingungen schlage einem Ekel oder Häme entgegen. "Wenn man mit dem Stigma 'Egerländer' einen Job sucht, wird's schwer. Viele Arbeitgeber scheren leider alle Bewohner über einen Kamm."Dem Kitzinger Oberbürgermeister Siegfried Müller sitzt das Problem Notwohngebiet seit vielen Jahren im Nacken. Er betont immer wieder, die Wohnungen seien schließlich nur für einen kurzen Aufenthalt von maximal drei Monaten gedacht. Allerdings ist Müller auch klar: Wenn sich die Lebensumstände der Menschen in diesen drei Monaten nicht erheblich verbessern, passiert schlicht und ergreifend gar nichts. "Natürlich wissen wir, dass die extrem niedrige Miete von 2,50 Euro viele bleiben lässt, weil andere Wohnungen zu teuer sind."
Staatliche Hilfe?
Die Abwärtsspirale zu stoppen, sei nicht Sache der Stadt. "Wir sind als Obdachlosenbehörde nur die letzte Instanz." Man müsste die Menschen schon viel früher begleiten, um den sozialen Absturz gar nicht passieren zu lassen, meint Müller. Familien- oder Jugendfürsorge seien hier Stichworte.Aber könnte die Stadt nicht selbst aktiv werden? Stichwort sozialer Wohnungsbau? Oder Wohnungen sanieren und selbst jemanden einstellen, der sich gezielt um die Notwohnler kümmert? "Das ist eine politische Entscheidung des Stadtrates", sagt Müller und verweist auf ein seit 2017 laufendes "Symposium", dessen Ziel es ist, die Situation im Notwohngebiet zu verbessern und "eine Trennung zwischen Obdachlosen und Dauermietern hinzubekommen". Wann und wie dies vonstatten gehen könnte, wagt Müller nicht zu schätzen. "Klar ist, dass das nicht von heute auf morgen geht."
So bleibt Jessica also erst mal auf sich gestellt mit ihrem Traum von "einem sauberen, menschenwürdigen Plätzchen für André und mich." Ebenso wie die alleinerziehende Birgit mit ihren beiden Kindern, die 52-jährige Karin, in deren Wohnung die Wände schimmeln, eine rumänische Familie mit Baby oder der 65-jährige Wolfgang Schermer mit der kaputten Wirbelsäule, dem im Bett der Wind ins Gesicht bläst, weil das Fenster nicht richtig schießt.
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