Druckartikel: Vor 74 Jahren flohen sie nach Forchheim

Vor 74 Jahren flohen sie nach Forchheim


Autor: Ekkehard Roepert

Forchheim, Mittwoch, 07. November 2018

Seine Sammelleidenschaft hilft Klaus-Dieter Lange, die Erinnerungen zu bewahren, die ihn und seine Frau in einer ungewöhnlichen Lebensgeschichte verbinden.
"Wir leben, wo andere Leute Urlaub machen", sagt Klaus-Dieter Lange. Als Jugendliche flohen er und seine spätere Frau Dora vor 74 Jahren aus Niederschlesien nach Forchheim.  Foto: Ekkehard Roepert


Klaus-Dieter Lange und seine Frau Dora gehören einer Generation an, die "alles zurücklassen musste". Als 13-Jähriger flüchtete er mit seiner Familie aus Niederschlesien nach Oberfranken. Innerhalb weniger Stunden sei man damals aufgebrochen. In der Annahme, nach vier Wochen wieder zurück zu sein.

Dieses einschneidende Erlebnis könnte ein Grund sein, vermutet Lange, dass er einen Hang zum Sammeln entwickelt habe. Zeitgeschichtliche Dokumente haben es ihm angetan. In den Regalen stehen reihenweise Monatshefte der "Gartenlaube", die er sich hat binden lassen. Zeitungsartikel erzählen von der Ankunft der Amerikaner in Forchheim im April 1945. Flugblätter erinnern an die düsteren Tage: Klaus-Dieter Lange zeigt ein Abwurf-Flugblatt der Alliierten - eine "Botschaft des Oberbefehlshabers der britischen Kampfflugzeuge an das Deutsche Volk". Oder ein Flugblatt vom September 1945, das sich an die "männliche Bevölkerung Forchheims" wendet. "Heranziehung" lautet die Überschrift: Allerdings gehörte Klaus-Dieter Lange nicht zu jenen, die sich im Stadtwald zur Stockholzrodung am Heinleinsdenkmal einfinden mussten. Erstens waren nur Männer zwischen 16 und 60 Jahren aufgerufen. Außerdem lebte der damals 14-Jährige Klaus-Dieter noch in Thurn und kam nur gelegentlich nach Forchheim.

Etwa wenn ihn der Bürgermeister, in dessen Haus er wohnte, mit dem Kuh-Gespann losschickte. Klaus-Dieter Lange schildert, wie er mit dem Gespann in Richtung Forchheimer Rathausplatz vorbeifuhr, der voller amerikanischer Jeeps stand. Der Rückweg - "mit voll beladenem Heuwagen" - führte ihn dann wieder am Sattlertorturm vorbei, wo die Amerikaner eine Panzersperre errichtet hatten. Auch davon hat Lange einen Zeitungsbericht aufgehoben.

Im selben Zug

"Er sammelt halt", sagt seine Frau Dora Lange. Mittlerweile lebt die 88-Jährige mit ihrem 87-jährigen Ehemann seit 74 Jahren in der neuen Heimat. Die beiden verbindet neben ihren beiden Söhnen eine so ungewöhnliche wie rührende Geschichte. Denn Dora Lange floh zeitgleich mit ihrem späteren Ehemann aus Niederschlesien. Allerdings in einem dreiwöchigen Fußmarsch, der in Hof endete.

Später kam sie, wie Klaus-Dieter Lange, im Flüchtlingszug nach Forchheim. Die beiden stiegen im März 1945 in Forchheim aus demselben Zug; kennengelernt haben sie sich erst viel später - und 1955 geheiratet.

Ein zentrales Sammelstück von Klaus-Dieter Lange sind die Lebensmittelmarken. Sie lösen bei ihm und seiner Frau intensive Erinnerungen aus. Hunger habe er nie gelitten, sagt Klaus-Dieter Lange. Selbst dann nicht, als der Flüchtlingstreck in Dresden feststeckte. "Da habe ich als 13-Jähriger in der Hitler-Uniform in einer Zuckerrübenfabrik gearbeitet. Die Rüben wurden gekocht und als Mahlzeiten im Leiterwagen zum Bahnhof gefahren." Fleisch habe es in Hülle und Fülle gegeben, erzählt Lange. Weil nach den Luftangriffen sämtliche Kühlhäuser zerbombt waren und das Fleisch weg musste.

Auch Dora hat als 14-Jährige den Bomben-Himmel von Dresden gesehen. Auf der Flucht habe Hunger geherrscht. Einmal habe sie in der Not in einem Stall den Schweinen Kartoffeln weggenommen. "Ich wundere mich manchmal, mit was wir eigentlich klar gekommen sind", sagt Dora Lange: "Wir haben Zeiten erlebt, die sich die heutige Jugend gar nicht vorstellen kann."

Mit Blick auf die Lebensmittelmarken werden Bilder von langen Fußmärschen wach, die es auch nach dem Krieg gegeben habe, erzählt die 88-Jährige: "Wenn es hieß, in Baiersdorf gibt´s Brot, dann sind wir losgelaufen. Am alten Kanal lang. Und wenn es in Baiersdorf nichts mehr gab, weiter bis nach Erlangen."

Bier für die Besatzungstruppen

Auch die Bier-Knappheit sei ein Thema gewesen, sagt Klaus-Dieter Lange, greift in seine Blättersammlung und liest aus einer Bekanntmachung vor: "Um den Bedarf an Bier für die Besatzungstruppen sicher zu stellen, wird die Abgabe von Flaschenbier an Private ab heute bis auf weiteres eingestellt."

Der gelernte Textilkaufmann Lange schlug sich in den Anfangsjahren als Dekorateur durch. Später eröffnete er mit seiner Frau in der Sattlertorstraße das "Steckenpferd", einen Laden für Bastelbedarf. So ein Geschäft wäre heute gar nicht mehr möglich, ist der 87-Jährige überzeugt: "Damals war man noch mehr bestrebt, aus nichts etwas zu machen."

Auf dem Dachboden des Geschäftshauses fand er viele der Flugblätter und Zeitungen, die er bis heute aufbewahrt hat. Aber damit soll jetzt Schluss sein. Mit seiner Frau Dora zieht Klaus-Dieter Lange in eine Seniorenwohnanlage. "Die Flugblätter und Zeitungen überlasse ich dem Stadtarchiv." Was bleibe, sind die Geschichten, die das Paar auch mit Freunden immer wieder austauscht. "Wir erinnern uns sehr oft an diese Zeit", sagt Dora Lange.