Seriensucht - wenn die Serie den Tag stiehlt
Autor: Redaktion
Erlangen, Freitag, 28. Sept. 2018
Serien sind für viele ein fester Bestandteil des Lebens, sie bringen Ablenkung und Entspannung ins Leben. Doch zuviel Konsum kann zu Suchtverhalten führen.
Von Julia Heimberger
Samstag spät abends in einer Erlanger Studentenwohnung, der Bildschirm flimmert blau im dunklen Zimmer. Michael, der wie alle anderen Befragten seinen richtigen Namen nicht veröffentlichen möchte, liegt auf dem Bett. Auf dem Laptop-Bildschirm kämpft gerade Ragnar Lodbrok aus der Wikinger-Serie "Vikings" heldenhaft und blutüberströmt gegen die Angelsachsen. Nach 45 Minuten endet die Folge abrupt und ohne zu verraten, ob Ragnar stirbt oder nicht. Michael hat Feuer gefangen, und er drückt sofort auf "Nächste Folge ansehen". Bei Amazon Prime Video und Netflix lassen sich mit dieser Funktion beliebig viele Folgen einer Serie hintereinander anschauen, ohne Pause, ohne Ende.
Immer mehr junge Menschen geraten im Zeitalter der immerwährenden digitalen Verfügbarkeit in eine Medienabhängigkeit, die sich zu einer Mediensucht entwickeln kann. Laut dem Fachverband Medienabhängigkeit ist das Phänomen der Internetabhängigkeiten seit 1995 bekannt. Aktuell werden unter dem Oberbegriff Medienabhängigkeiten eine ganze Reihe internetbezogener Verhaltenssüchte wie zum Beispiel Gaming, Cybersex und Pornografie zusammengefasst. Für diese drei gibt es bereits Studien, doch für andere Bereiche wie Online-Glücksspiele, Online-Shopping, Social Media Nutzung, Social Communitys und Informationsportale fehlen diese noch. Serienkonsum gilt bisher nicht als eigenständige Sucht. Aufgrund der fehlenden Studien ist Medienabhängigkeit bislang nicht offiziell als
Suchtproblematik anerkannt. Solange diese jedoch nicht vorliegt, ist die Kostenübernahme der Krankenkassen im Behandlungsfall eine freiwillige Angelegenheit.
Die Universität zu Lübeck betreibt die vom Bundesministerium für Gesundheit geförderte Arbeitsgruppe DIA-NET - Diagnostik der Internetabhängigkeit im Netz. Die Professoren gehen davon aus, dass ca. 1-2% der deutschen Gesamtbevölkerung unter einer Internetabhängigkeit leiden. Bei Jugendlichen geht man von einer Rate von bis zu 5% aus. Demnach wären mindestens 800.000 bis 1.600.000 Personen in Deutschland davon betroffen. Vergleichbar wären diese Zahlen mit den circa 1.300.000 diagnostizierten Alkoholabhängigen in Deutschland.
Dass Medienabhängigkeit und Seriensucht unter Studierenden weit verbreitet sind und immer mehr zunehmen, bemerken auch die Diplom-Psychologin Kirsten Kruse-Horstmann und das Team der Psychologisch-Psychotherapeutischen Beratungsstelle des Studentenwerks Erlangen-Nürnberg. Zu ihnen kommen vor allem Studierende, deren Semesterzahl immer mehr zunimmt, ohne dass Leistungen erbracht werden, oder aber das Studienende rückt in weite Ferne. "Viele Studierende haben vielschichtige Probleme, zum Beispiel einen zu hohen Leistungsanspruch, den sie gar nicht erfüllen können. Oder sie haben ein Fach gewählt, mit dem sie unglücklich sind. Daher wenden sie sich anderen Dingen zu, unter anderem eben dem Konsumieren von Serien, bis Alltags- und Uniaufgaben vernachlässigt werden und darunter leiden." Diese Aussage kann die 22-jährige Studentin Anna nur bestätigen: "Ich schaue jeden Tag Serie, mindestens vier bis fünf Stunden pro Tag. Wobei ich eine Folge immer bis zu Ende sehen muss, ich kann nicht bei der Hälfte aufhören. Selbst wenn ich weiß, dass ich eigentlich was für die Uni machen sollte."
Neben Studenten sind alle Alters- und Gesellschaftsklassen betroffen. Diese können sich im Bedarfsfall an die psychosoziale Beratungsstelle der Caritas Bamberg wenden. Hier werden sie von der Diplom-Psychologin Astrid Heyl beraten. Ihrer Ansicht nach ist Mediensucht häufig zunächst eine stille und unbemerkte Sucht, die sich fernab der Öffentlichkeit im Privaten manifestiert. So sieht zum Beispiel der 28-jährige Student Sebastian jeden Tag Serie, in der Regel allein zu Hause. "Selbst wenn ich wenig Zeit habe, sehe ich mindestens zwei Stunden täglich. Vier Stunden sind die Regel, und ich würde gerne mehr sehen." Nach Astrid Heyl könne man erst von Mediensucht sprechen, wenn typische Suchtmerkmale vorliegen. Hierzu gehören sukzessiver Interessensverlust, das Fehlen von Alternativen, der Kontrollverlust, nicht mehr abschalten zu können und die Fortsetzung des Konsums trotz negativer Auswirkungen. Die 23-jährige Studentin Marie kann das nur bestätigen: "Wenn ich Serien sehe, habe ich oft schlechte Laune, weil ich im Grunde ein schlechtes Gewissen habe wegen zu viel Unproduktivität. Daher versuche ich gar nicht erst anzufangen, denn manchmal komme ich dann gar nicht mehr davon los."