Hiltpoltsteins kurzer Sommer der Anarchie
Autor: Petra Malbrich
Hiltpoltstein, Freitag, 03. Mai 2013
In den Jahren 1981 und 1982 nahm die Punkband Extrabreit mit Bassist Jäger bei dem Hiltpoltsteiner Jonas Porst ihre Platten auf. Zwischen den Musikern und den Einwohnern entstand mit der Zeit so etwas wie Liebe. Bis eines Tages Schüsse durch Hiltpoltstein peitschten.
           
Für einen kurzen Moment schien in den 80er-Jahren alles möglich zu sein. Auch in der Provinz, auch in Hiltpoltstein. Der Katalysator, der die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen schien, war die Musik. "Die Neue Deutsche Welle war das Besondere an diesen Jahren. Man hat erkannt, was man mit der deutschen Sprache alles machen kann", erinnert sich Jonas Porst. 
Gemeinsam mit seinem Bekannten Manni Neuner betrieb Porst in jenen Jahre ein Tonstudio. Hauptberuflich war Porst als Schallplattenvertreter in halb Deutschland unterwegs. 
Heute erinnert auf den ersten Blick nichts mehr an diese wilden Jahre. Das damalige Plattenstudio ist heute ein Zweifamilienhaus. Dennoch muss Porst nicht lange nachdenken, bis ihm die ganzen wilden Geschichten von damals einfallen. Damals, als die Kraft des Pop und Punks auch Hiltpoltsteins erbeben ließ. Anfangs wurde Porsts Plattenstudio von einigen Hiltpoltsteinern durchaus mit Argwohn betrachtet. 
Denn von nun an kamen viele langhaarige Typen in den Ort, und in dem Haus arbeitete man natürlich nicht von neun bis fünf. Sondern nachts. Nicht nur Porst selbst, auch die Musiker lebten in den Wochen des Aufnehmens mit den Hiltpoltsteinern. Sie waren in örtlichen Pension untergebracht und oft in den dortigen Familien integriert. Ein Gasthaus zum Beispiel sperrte nach Mitternacht die Haustüre vorne ab, ließ aber die Hintertür offen, damit die Musiker um zwei Uhr noch "abhängen" konnten.
Nach etwa zwei Jahren fand Porst die erste Sympathiebekundung vor der Tür seines Tonstudios: ein Körbchen frisch gepflückter Pfiffer.
Jeans in Domestos
Es war vor allem die Punk-Band Extrabreit, die besonders großen Eindruck unter den Hiltpoltsteinern gemacht hat. In den Jahren 1981 und 1982 nahm die Band in Hiltpoltstein ihre Musik auf. "Die waren einfach cool, richtig gut drauf", erinnert sich Peter Meyer. Eigentlich hörte er zu jener Zeit wie seine Freunde eher Hardrock. Trotzdem ahmten auch einige Jungen die Musiker nach und tauchten zu Hause ihre neuen Jeans in Domestos.
Das, so ging damals die Legende, sollte den Hosen die begehrten bleichen Stellen geben. Selbst Hosen im Tiger- oder Leoparden-Look zogen in Hiltpoltstein ein. "Wenn man heute die Songs von Extrabreit hört, fühlt man sich gleich wieder wie 17", lacht Meyer. Er ist heute 47 Jahre alt. Jonas Porst war so etwas wie die Brücke zwischen den Hiltpoltsteiern und den Poppern und Punkern. Außen vor dem Plattenstudio lungerten nachts hauptsächlich die Mädchen herum, um eine Takte Musik zu erhaschen und die Musiker am besten auch einmal zu Gesicht bekommen. Das war auch gar nicht so schwer.
Die "Extrabreiten", wie die Band von den Einheimischen genannt wurden, fuhren mit den Teenies in das Betzensteiner Freibad oder gesellten sich zu den Grillfeiern der Jugendlichen in den Wäldern Hiltpoltsteins. Und selbst bei privaten Feiern, wo auch die Eltern und Großeltern der Teenager mit am Tisch saßen, waren die Musiker gern gesehene Gäste.
Für jeden ein Hosenbein
Unbehagen gegenüber dem Lebensstil der Musiker kannten die Hiltpoltsteiner nicht: "Das mit dem Alkohol war damals nicht so schlimm. Man hat mal ein Bier getrunken, das war es dann aber", sagt Meyer.
Ein richtiger Fan der "Extrabreiten" war die damals 13-jährige Tanja Kellner. Vor allem die Jeans des Bassisten Wolfgang Jäger hatte es ihr angetan. "Er hatte wochenlang immer dieselbe zerrissene Jeans an. Er versprach sie für mich an die Linde am Felsen zu hinterlassen. Aber sie lag nicht dort. Einige Zeit später kam Jonas vorbei, mit der Jeans in der Hand. Gewaschen!", fasst Kellner ihr damaliges Entsetzen in Worte. Heute lacht sie darüber.
Die gewaschene Jeans hat sie mit ihrer Freundin trotzdem geteilt. "Jeder bekam ein Hosenbein", erzählt sie. Keller erinnert sich gerne daran zurück, wie ungezwungen Dorfbewohner und Musikstars damals miteinander umgegangen sind.
Wie tragfähig die Sympathie der Hiltpoltsteiner gewesen ist, illustriert auch die Sache mit der Schießerei. "An einem freien Tag beschlossen die Jungs, in die Stadt zu fahren. Dort kauften sie diese Schreckschusspistolen und Leuchtschussmunitionen. Damit spielten sie nachts in den gebirgigen Straßen in und um Hiltpoltstein eine amerikanische Verfolgungsjagd nach", erinnert sich Porst.
Das Korn auf den Äckern an den Straßenrändern stand bereits hoch und bot den Musikern eine offenbar reizvolle Kulisse für ihre Verfolgungsjagd. "Alles stand unter Dampf. Das ganze Dorf war wach und die Leute dachten wahrscheinlich, die Russen kommen", erzählt Porst. Einige Dorfbewohner sollen sogar selbst zum Gewehr gegriffen haben. Doch bald erkannten sie die Autos mit den Hagener Kennzeichen und wusste, dass es die "Extrabreiten" waren.
"Es ist unglaublich, dass das von den Einheimischen toleriert wurde", wundert sich der heute 70-jährige Porst immer noch ein bisschen.
Liebeserklärung an den Ort
Diese Geschichte haben Lehrer und Schüler in den Tagen danach im Sozialkundeunterricht heftig diskutiert: Darf man das oder nicht? Auf jeden Fall schrieben viele Zeitungen und auch Jugendzeitschriften über die berühmt gewordene nächtliche Schießerei in Hiltpoltstein.
Hilpoltstein und Extrabreit: Das war eine Liebe, die auf Gegenseitigkeit beruhte. In ihrem Buch "Die Breiten" verfasste die Band Jahre später eine Liebeserklärung an Hiltpoltstein und seine Menschen.