Druckartikel: Hier wird Hilfe verhandelt - ein Tag in der Flüchtlingsunterkunft

Hier wird Hilfe verhandelt - ein Tag in der Flüchtlingsunterkunft


Autor: Ekkehard Roepert

Forchheim, Mittwoch, 02. Dezember 2015

Flüchtlinge unterstützen, heißt oft, sie zu desillusionieren. Ein Tag in der Unterkunft "Alte Post".
Wilmya Zimmermann (links) und Dolmetscherin Raschel El Aissami (rechts) sprechen mit Flüchtlingsfrauen über die Hausordnung in der Unterkunft ""Alte Post". Foto: Barbara Herbst


Mimi sitzt alleine in der ehemaligen Kantine im Keller der Alten Post. Der Steinfußboden, die fleckigen Tische und das Neonlicht wirken wenig einladend. Mimi tunkt Brot-Stückchen in Öl und dann in einen Teller mit Kräutern. Die 30-Jährige sieht schmal und müde aus. Um den morgendlichen Deutschunterricht zu besuchen, fehle ihr momentan die Kraft.

Seit der Flucht aus Damaskus im September hat Mimi 15 Kilogramm abgenommen. Sie sei froh, dass sich ihre Kinder Midia (11) und Diana (7) in Forchheim wohl fühlen. Und sie selbst? "Das ist nicht mein Leben", sagt sie auf Englisch. Warum nicht? "Zu viele Leute, jeden Tag, jeden Tag, jeden Tag."


Arbeit für starke Nerven

In der Unterkunft unter der Regie der Arbeiterwohlfahrt leben 42 Menschen, die aus Syrien und Afghanistan geflohen sind: darunter neun Kinder und zwölf alleinstehende Männer. Der Sozialpädagoge Ralph Himmer leitet die Einrichtung. Er hat interkulturelle Pädagogik studiert, spricht neben seiner Muttersprache auch Türkisch und Englisch und bringt 25 Stunden pro Woche viel Einfühlungsvermögen und Geduld mit. "Kaum sitze ich meinem Büro", klopft es an der Tür", sagt Himmer.

Ohne einen Stab von 24 Ehrenamtlichen wäre die Hilfe hier nicht organisierbar. Die Ex-Europa-Abgeordnete Wilmya Zimmermann kommt fast jeden Morgen vorbei - und bleibt bis zum Abend. Die Poxdorferin ist eine Ersatz-Mutter für viele Frauen. Wahlweise wird sie auch "Schwester" oder "Oma" gerufen. Als sie den Raum betritt, stürzt sich Mimi in ihre Arme. "Wie geht"s dir?" "Schlecht".

Wer in der Unterkunft mitarbeitet, braucht starke Nerven, um die grausamen Geschichten auszuhalten. "Jeder will seine Geschichte loswerden", sagt Wilmya Zimmermann. Bashar Hassan zückt das Handy. Er zeigt Aufnahmen seiner zerbombten Heimatstadt; seiner toten Verwandten; zeigt Bilder seiner sechs Kinder und seiner Frau. Er habe gehofft, erzählt er mit Tränen in den Augen, er könne sie sofort nachholen. Seit September sei er hier und habe noch nicht mal sein Interview am Amt für Migration gehabt. "Warum muss ich bis April warten? Warum werden alle, die später kommen, vorgezogen? Kannst du mir nicht helfen, du hast doch Einfluss?"

Das ist die härteste Aufgabe der Helfenden: Sie müssen den Flüchtlingen Illusionen rauben. Sie müssen sagen: Fahre nicht nach München, niemand im Bundesamt wird mit dir reden, wenn du keinen Termin hast. Oder: Du kannst nicht einfach die Unterkunft wechseln, weil deine Schwester in Gräfenberg wohnt. Oder: Asyl heißt nicht, dass deinen Kindern eine gute Ausbildung garantiert ist. Oder: Zwei Kilometer zum Kindergarten, das ist zumutbar, es gibt auch deutsche Frauen, die den Weg zurücklegen. Oder: Die Warteliste ist lang, du musst ein Jahr auf die Therapie warten. Oder: Du kannst deine Familie nicht nachholen.


Lernende Helfer

"Wir müssen", sagt Wilmya Zimmermann, "selbst lernen, wie schwer manches für die Flüchtlinge zu verstehen ist - vor allem die Bürokratie". Einige Themen sind zu brisant, um Missverständnisse zu riskieren. Ein Flüchtling hat Gelbsucht. Er muss verstehen, dass er die Hepatitis beim Sex übertragen kann; dass er den Arzttermin einhalten und seine Familie schützen muss.

Nachdem Dolmetscherin Raschel El Aissami ihm das klar gemacht hat, sitzt sie mit Wilmya Zimmermann und zehn Frauen in der Runde. Es geht um die Hausordnung. Putzen die Syrier zu wenig? Oder sind es doch die Afghanen? Mehrere reden gleichzeitig auf die Dolmetscherin ein. Sie sagen, dass sie die Mülltrennung schon praktizieren. Es wird laut. Die Frauen scheinen sich einig zu werden: Es sind die Männer, die nicht genug putzen. "Stopp, stopp", ruft Zimmermann immer wieder.

"Sie wollen alle reden", weiß auch Edith Müller. Sie verwaltet mit drei Helferinnen die Kleiderkammer im Keller. Zwei Kurdinnen kommen herein. Edith Müller legt einer Afghanin eine Stola um die Schultern. Für die andere hat sie eine Schwangerschaftshose zurückgelegt.


Ikons statt Worte

Wer keine Worte für seine Kleiderwünsche findet, deutet auf Karten mit Ikons, die Edith Müller bereit hält. Reihenweise hängen Jacken an der Stange. "Alle Männerjacken sind zu groß." Daher greifen die vielen dünnen Flüchtlinge auf Frauenjacken zurück: "Da sind dann aber meist die Ärmel zu kurz", sagt Edith Müller.

Nebenan sitzt Akram, auch er will unbedingt reden. "Unter der Heizung, unter dem Tisch, im Regal." Hochkonzentriert übt er Dativ-Präpositionen. "Unglaublich fleißig" sei er, sagt Liudgard Schmidmeier. Die Musiklehrerin unterrichtet ehrenamtlich Deutsch. Akram paukt zusätzlich zum offiziellen Unterricht. "Alles unsystematisch, aber besser als nichts", sagt die Lehrerin. "Wir versuchen viel zu reden."

Erstaunlich, wie wenig Worte manchmal reichen. Anke Rüther ist die Patin der Familie Shbat. Die 18-jährige Mutter von Amir hat sich mit ihrem Mann vier Wochen nach der Geburt auf die Flucht gemacht. Seit der Ankunft hat sie nur noch Kopfschmerzen. Der gemeinsame Wortschatz sei klein, sagt Anke Rüther: "Aber wenn wir lange zusammensitzen, verstehen wir uns. Es gibt immer 1000 Sachen, wo man den Weg zeigen muss."