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Hamburger Jungs pauken bei uns


Autor: Manfred Franze

Ebermannstadt, Samstag, 17. November 2012

Nach schweren Bombenangriffen bleiben die Schulen in der Hansestadt nach den Sommerferien 1943 geschlossen. Die Schüler werden deshalb zum Lernen in die deutsche Provinz geschickt. Der elfjährige Rolf Harald Arnold landet in Gößweinstein.
Eine Klasse aus dem KLV-Lager "Stern". Die Jungen tragen nur zum Teil  die Winteruniform der HJ. Ganz oben das Lehrerehepaar K., das nach Kriegsende in Gößweinstein blieb und hier seinen Lebensabend verbrachte.


Während des Zweiten Weltkriegs veränderte sich die Fränkische Schweiz wie noch nie zuvor in ihrer Geschichte. Innerhalb von sechs Jahren wuchs die Bevölkerung allein im Landkreis Ebermannstadt um fast 7000 auf über 29 000 Einwohner an. Fremde brachen in das bis dahin geruhsame ländliche Leben ein: Evakuierte aus dem Saarland, Ausgebombte aus den Großstädten, Flüchtlinge aus dem Osten, Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene aus den besetzten Gebieten.
Und es waren überwiegend junge Menschen, die der Krieg aus ihrer angestammten Heimat vertrieb. Im Landkreis Ebermannstadt waren am Ende des Krieges fast 42 Prozent der Bevölkerung Jugendliche unter 18 Jahren. Erheblichen Anteil hatten daran Schüler, die im Rahmen der so genannten "Erweiterten Kinderlandverschickung" (KLV) Mitte 1943 aus Hamburg in die weniger gefährdete Provinz geschickt wurden.

Umzug nach Oberfranken

"Während die Kinderlandverschickung, die von der Reichsregierung schon 1940 in Kraft gesetzt worden war, zunächst noch auf freiwilliger Basis ablief", erinnert sich der damals elfjährige Gymnasiast Rolf Harald Arnold, "wurde jetzt nach den schweren Bombenangriffen während der Ferien Ende Juli 1943 in Hamburg der Schulbetrieb eingestellt und die Schulen komplett in die Provinz evakuiert."
Die Schulen in Hamburg blieben bis Kriegsende geschlossen. Da der "Gau Bayreuth das Hauptaufnahmegebiet der Hamburger Kinderlandverschickung" war, kam Rolf im Oktober 1943 mit seiner gesamten Schule, der "Eimsbütteler Oberschule", "mit allen Schülern und Lehrern in den kleinen Wallfahrtsort Gößweinstein nach Oberfranken, und zwar klassenweise in die Hotels bzw. Gasthöfe ‚Distler', ‚Stern', ‚Waldesruh', ‚Faust', ‚Olga' und in das Kloster, aus dem man die Mönche kurzerhand entfernt hatte."
Aber nicht nur in Gößweinstein wurden für die Hamburger Schüler "KLV-Lager" errichtet. Die "Oberschule für Mädchen am Lerchenfeld" wurde in Doos im Gasthof Heinlein und in Muggendorf (Feiler, ‚Goldener Stern' und Parkhotel) untergebracht; andere kamen wie z.B. die Oberschule für Mädchen Wilhelmsburg in Egloffstein oder in Veilbronn (Sponsel, Lahner) unter. Von den insgesamt 4000 bis 5000 Hamburger Schülern, die das Kriegsende und die Monate danach im Gau Bayreuth erlebten, musste Gößweinstein allein 500 aufnehmen.
Während die unter zehn Jahre alten Kinder von der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) in "sicheren Gebieten" bei Pflegefamilien untergebracht wurden, kamen die älteren als geschlossene Gruppe in ein KLV-Lager.
Die mitgeschickten Lehrer hatten hier nicht nur für den Unterricht zu sorgen, sondern auch für die gesamte Versorgung des Lagers. Die weltanschauliche Schulung oblag einem Lager-Mannschaftsführer ("LMF") aus der Hitler-Jugend (HJ) oder einer Lager-Mannschaftsführerin ("LMF") aus dem Bund Deutscher Mädchen (BDM), was in der Praxis dazu führte, dass es häufig zwischen den Lehrern und den jugendlichen Führern aus HJ und BDM zu Streitigkeiten und Auseinandersetzungen kam.

Lachsalven der Schüler

So ordnete zum Beispiel Rolf Arnolds sechzehnjähriger LMF während der Unterrichtszeit einen Marsch zur Teilnahme an einer Filmvorführung in einem anderen KLV-Lager an. Verärgert ließ darauf der Lehrer die Schüler "in Umkehrung der üblichen Marschordnung so antreten, dass vorne die Kleinsten und hinten die Größten marschierten", was dann bei der Ankunft zu ungeheuren Lachsalven bei den Schülern aus den anderen KLV-Lagern führte.
Rolf Harald Arnold wurde zunächst dem Lager "Kloster” zugewiesen, bis er "nach einigen Wochen" zu seinen Klassenkameraden im "Stern" umziehen konnte: "Ich kam in das Zimmer 15 mit vier Betten. Hier gab es keine schmalen Hochbetten wie im Kloster, sondern jeder hatte ein normales Bett. Die Zimmerinsassen mussten ihren Zimmern jeweils den Namen eines deutschen Generals geben und ein Bild von diesem außen auf die Zimmertür kleben. Der Gasthof Stern war das Kleinste der als KLV-Lager eingerichteten Gasthäuser."
Die 26 Schüler von Rolfs Klasse waren die jüngsten unter den etwa 500 Schülern in Gößweinstein. Unterrichtet wurden sie von "etwa 12 bis 15" Lehrern, die "mit ihren Familien" zwei Jahre lang von 1943 bis 1945 hier lebten. Von einem Lehrer ist bekannt, dass er sich nach Kriegsende pensionieren ließ, sich mit seiner Frau in Gößweinstein ein Haus kaufte und später auch hier starb.

Weltanschauliche Schulung

Am Abend oder auch am Sonntagnachmittag gab es "politischen Unterricht" durch den von der HJ ausgewählten LMF. "Er hielt uns Vorträge über Reich und Führer, Ehre und Treue, Tapferkeit und Durchhaltevermögen", erinnert sich Arnold. Wesentlich anstrengender waren offensichtlich die zur Wehrertüchtigung gedachten Geländespiele. "Tarnen, anschleichen, Feind überfallen und töten, feindliche Fahne erobern", so beschreibt der gleichaltrige Klaus Hückel, der im Juli 1944 mit seiner Klasse im Scheffel-Gasthof untergebracht war, das geforderte Übungsziel.
"Das Töten ging so vor sich, daß man dem Feind das Koppel öffnete. Damit das nicht so leicht ging, zog man den Koppelgurt so stramm zusammen, daß man kaum noch Luft bekam. So ging das Koppel hoffentlich nicht auf. Aber als Gegner wusste man sich zu helfen: Sein Gegenüber zu Boden werfen. Knie in den Unterleib rammen und im selben Augenblick, wenn der Bauch sich vor Schmerz zusammenzog, das Koppelschloss öffnen", schreibt Hückel weiter.
Trotz Unterricht, weltanschaulicher Schulung und Wehrertüchtigung blieb noch viel Freizeit, um - wie Klaus Hückel den Ort nannte - "Gesswahschtah" und seine "märchenhafte Landschaft" zu erkunden. Arnold schreibt im Rückblick: "Das Leben in und mit dieser Landschaft hat mich als Großstadtjungen positiv geprägt."

Der zweite Teil der Lebenserinnerung von Rolf Harald Arnold folgt.