Geschichten von Flucht und Vertreibung
Autor: Petra Malbrich
Sollenberg, Sonntag, 10. März 2013
Ein Sollenberger Heimatforscher sammelt die Schicksale von Flüchtlingen aus der Region. Für viele ist es das erste Mal, dass sie über ihre Erfahrungen berichten.
Fast 100 Lebensgeschichten hat Reinhard Müller bereits gesammelt. In vier Ordnern liegen sie säuberlich abgeheftet bei Müller in Sollenberg. Bei allen Unterschieden haben sie eines gemeinsam: Flucht und Vertreibung spielen eine große Rolle darin. Darüber waren sie in vielen Fällen nicht einmal die engsten Familienmitgliedern im Klaren. Flucht und Vertreibung waren und sind Themen, die gerne verdrängt und ausgespart werden. Selbst innerhalb von Familien.
"Bei mir war das auch so, bis 2007 mein Vater unerwartet starb. Da wollte ich wissen, wer die Müllers eigentlich sind und begann mit der Stammbaumforschung", sagt Müller. Er nahm sich auch die Familiengeschichte seiner Frau vor und wurde dort mit den Erlebnissen der Flüchtlinge aus Schlesien konfrontiert. Da der Schwiegervater bereits dement war, als Müller mit den Aufzeichnungen begann, fragte er sich durch, bis er schließlich bei einer Hiltpoltsteiner Familie landete. Für seine Familienchronik war die Spur haltlos, doch sie wurde ein wichtiger Baustein für sein Buch über Flucht und Vertreibung im Zweiten Weltkrieg.
Immer aufwendiger und wie getrieben trug der Heimatforscher die Erinnerungen von Vertriebenen zusammen. "Obwohl alle diese Leute flüchten mussten oder vertrieben wurden, sind alle Erlebnisse anders", sagt Müller.
Schockierende Erzählungen
Seine Recherchen führten von den Flüchtlingen aus Schlesien zu den Böhmerwäldern, dann zu den Donauschwaben bis zu den Vertriebenen aus dem Sudetenland. "Die Vertreibung hat mich am meisten schockiert", sagt Müller und blättert in seinen Unterlagen, die er auch auf dem Laptop gespeichert hat.
"Eine Mutter mit zwei Kindern auf einem kleinen Bauernhof erhielt abends um 22 Uhr die Mitteilung, dass sie sich anderntags früh auf dem Dorfplatz versammeln müssen. Mitbringen sollten sie neben anderen Dingen auch den Hausschlüssel, den sie dann natürlich abgeben mussten. Zur Ausweisung wurden sie auf dem Platz stehen gelassen, von den Tschecheslowaken beschimpft und auch mit Steinen beworfen - selbst die kleinen Kinder", schildert Müller eine der zahlreichen düsteren Geschichten, die er in einem Umkreis von 30 Kilometer gesammelt hat.
"Jeder hatte eine Binde am Arm, auf dem ,Nemec' stand, das tschechische Wort für Deutsche. Als sie mit Viehwaggons über die Grenze gezogen wurden, hielt der Zug und die Leute wurden aus den Waggons aufs freie Feld getrieben. Von dort aus mussten sie selbst sehen, wie sie weiterkamen." Das hat Müller eine ältere Frau erzählt.
Wenn Müller anfangs Geschichten wie diese gehört hat, konnte er kaum verstehen, warum die Menschen davon solange geschwiegen haben. Jetzt ist er schlauer: "Das Wort Flüchtling war ein Schimpfwort. Die Leute sind hier nicht freundlich aufgenommen worden und haben sich mit dem Thema selbst nicht mehr beschäftigt." Sozial integriert sind die Flüchtlinge und Vertriebenen erst später, in den Vereinen beispielsweise. "Jetzt outen sie sich. Viele stehen auch am Lebensende und schreiben ihre Geschichte auf ", sagt Müller.
Tagelöhner in Schlesien
Manche Flüchtlinge und Vertriebene sind nie wieder in ihre ehemalige Heimat zurückgekehrt. Andere kehrten nach einem Besuch umso enttäuschter zurück, wie manche Donauschwaben aus Neu Pasua. "Dort waren sogar die deutschen Friedhöfe platt. Man wollte mit den Deutschen nichts mehr zu tun haben", sagte Müller. Viele ehemalige Flüchtlinge hat er in Hiltpoltstein gefunden. Sie waren einst Tagelöhner in Niederschlesien gewesen. Der Großvater einer Hiltpoltsteinerin war damals Gutsförster und führte einen Flüchtlingstreck an.
In seinem Tagebuch hat er alle Stationen der Flucht, die vom 20. Januar 1945 bis 17. März 1945 dauerte, aufgeführt. "Er war der einzige Mann, hatte damit eine dominierende Stellung bei dem Treck, der aus alten Leuten, Frauen und Kindern bestand", sagt Müller.
Müller wünscht sich mehr Zeit für die Gespräche mit den Betroffenen. Dafür bleiben ihm fast nur die Wintermonate, denn er arbeitet vollberuflich im Qualitätsmanagement für eine Landmaschinenfirma und ist oft im Osten unterwegs.
Warum er die Mühe überhaupt auf sich nimmt? "Ich will Jüngeren die Möglichkeit geben, die Geschichte ihrer Eltern oder Großeltern zu erfahren." Und nicht wenige, die hier schon lange neben- und miteinander leben, haben erst durch Müller erfahren, dass sie eines teilen: die Erfahrung der Vertreibung.