Ein Leben hinter Stasi-Gittern
Autor: Petra Malbrich
Gräfenberg, Freitag, 10. Januar 2014
Mit den Zuständen in der DDR wollte sich Karl-Heinz Richter nicht abfinden. Das brachte ihn ins Gefängnis. Gräfenberger Schülern präsentierte er sein Leben als Lehrstück von staatlicher Willkür und dem Mut des Einzelnen.
Es braucht wohl schon eine Geschichte wie die von Karl-Heinz Richter, damit sich eine Gruppe von Zehntklässlern mucksmäuschenstill verhält. In der Gräfenberger Realschule erzählte der 68-Jährige jetzt aus seinem Leben. Es ist eine Geschichte von Mut, von Schmerz und staatlicher Willkür. Es ist eine deutsch-deutsche Geschichte, die auch ein Vierteljahrhundert nach Fall der Berliner Mauer nicht aufhört, wehzutun.
Fast 40 Menschen der früheren DDR verdanken Richter ein anderes, ein freieres Leben. Er hat ihnen geholfen, in die Bundesrepublik zu flüchten. Damit wurde er zu "Erich Mielkes großer Liebe", wie Richter süffisant sagt. Der ehemalige Stasi-Chef macht den Fluchthelfer zum Staatsfeind Nummer eins. 3000 Seiten fasst Richters Stasi-Akte.
"Ich hatte das Gefühl eingesperrt zu sein.
Richter hasste ganz einfach die ständige Bevormundung. An der Wiege gesungen war ihm die Aufmüpfigkeit nicht. Richters Vater war ein überzeugter Kommunist, der in der DDR ein Staatsbegräbnis erhalten hat. Aber Richter war anders. Er weigerte sich, einfach mitzumachen.
"Die FDJ war wie die Hitlerjugend", sagte Richter in Gräfenberg. Beide Jugendorganisationen hält er für gleich totalitär und anmaßend in ihrem Anspruch, über das Leben von Kindern und Jugendlichen zu bestimmen.
Die Stasi und die NSA
Dann kommt Richter plötzlich auf den Whistleblower Edward Snowden, der das umfassende Spähprogramm des amerikanischen Geheimdiensts NSA aufgedeckt hat. Snowden riskiere für die Wahrheit sein Leben. Richter erzählt in ungezwungenem Berliner Dialekt.
Er reißt seine Zuhörer mit, springt von der Vergangenheit der DDR in die Gegenwart und wieder zurück. Alles, um den Gräfenberger Schülern eines zu zeigen: Wie wichtig es ist, Zivilcourage zu zeigen.
Richter jongliert weiter mit den Themen, Zeiten und Bezügen. Zwischen der NSA, die mit großer Selbstverständlichkeit und Arroganz die Telefonate der Kanzlerin abgehört hat, und der der Stasi macht er keinen Unterschied.
Richters Stimme bleibt fest, selbst wenn ihm Tränen in den Augen stehen. Er appelliert an die Schüler, nicht einfach alles zu glauben, sondern zu recherchieren und den eigenen Kopf zu benutzen.
Der 68-Jährige läuft auf und ab und erzählt in einem jugendlichem Plauderton. Alles an Richter soll zeigen, dass er ein freier Mann ist und eben kein gebrochenes Wrack. Trotz aller Schicksalsschläge, trotz der Haft.
Die Zuhörer können die Kälte beinahe selbst spüren, die auch Richter gespürt hat.
Damals, als er aus einer Dachluke schaute, die Bahnstrecke im Blick, und sich die Positionen der Wachposten einprägte. Im Januar 1964 plante er zusammen mit sieben Ostberliner Jugendlichen, aus der DDR zu fliehen. Die Schulkameraden betraten in einem Zeitraum von drei Wochen nacheinander das Gleisbett hinter dem Bahnhof Berlin-Friedrichstraße und sprangen aus einem Versteck auf einen anfahrenden Nachtzug, um von Ost- nach West-Berlin zu gelangen. Richter aber stolperte und schaffte es nicht.
"Um nicht erschossen zu werden, musste ich sieben Meter herunterspringen. Meine Beine, der Arm und einige Rippen waren gebrochen", sagt Richter.
Von einer Freundin gestützt, schaffte er es bis ins Krankenhaus. "Mir war aber klar, die holen mich", erinnert sich Richter. Dann klingelte es an der Tür. Richter wurde verhaftet und kam trotz seiner schweren Verletzungen ins Gefängnis nach Berlin-Pankow. "Mielke will mich umbringen, war mir da klar", sagte Richter in Gräfenberg.
Mut kann Leben retten
Wahrscheinlich war es sein Mut und die Selbstsicherheit, die ihm das Leben retteten. Richter unterschrieb kein Geständnis. Er gab nur zu, was sie ohnehin schon wussten. Er tischte der Stasi Lügen auf, bis sie ihm eine Woche später auf die Schliche kamen.
"Der Knast war wie im Mittelalter. Folter, eine Brühe", erinnert sich Richter. Sein Überlebenswille, der Wunsch wieder nach Hause zu kommen, hielt ihn einigermaßen aufrecht. "Pöbelt herum, um den Leuten den Wind aus den Segeln zu nehmen, die behaupten, die DDR war kein Unrechtsstaat", appelliert er an die Gräfenberger Schüler.
Immer wieder betonte Richter in Gräfenberg auch die Bedeutung von Kameradschaft.
Denn es waren jene Kumpels, denen er selbst in den Westen verholfen hatte, die dort die Presse auf Richter aufmerksam machten.
Die Scham der Mediziner
"Lebt der kleine Zugspringer noch?", so habe eine der Schlagzeilen damals gelautet. Die im Osten hätten dann natürlich beweisen müssen, dass die Unterstellungen des Westens falsch sind. Richter wurde aus der Haft entlassen, in irgendwelche Privatklamotten gesteckt und ins Krankenhaus gebracht.
Alle Knochen mussten ihm nochmals gebrochen werden. "Die Mediziner schämten sich, was mir angetan wurde", sagte er.
Aber Richter hatte Angst, wieder in den Knast zu müssen. Die Stasi glaubt e mit der Freilassung Richters einen Propaganda-Erfolg erreicht zu haben.
Für Richter hatte seine Freilassung eine dunkle Seite. Viele hielten ihn nun für einen Spitzel. Weshalb hätte ihn die Stasi sonst freilassen sollen? Viele Mitmenschen mieden ihn. Aber die Eltern hielten zu ihm. Der Vater erlitt einen Herzinfarkt und starb in Richters Armen.
",Ihr Kommunistenschweine habt meinen Vater getötet', rief ich vom Schornstein herunter", sagte Richter. Das hat ihm zweieinhalb Jahre Isolationshaft eingebracht.
Auch Richters Ehefrau verhaftete die Stasi, vergewaltigten sie im Keller des Gefängnisses. Und sie holten Richters Tochter, steckten sie zwei Jahre ins Heim. "Sie wollten mich brechen", meint er.
"Über 7000 Kinder wurden zur Zwangsadoption gegeben. Das Unrecht wird legalisiert, da keine Auskunft darüber gegeben wird, ermöglicht durch den Einigungsvertrag", klagte Richter in Gräfenberg.
1975 durfte Richter endlich in den Westen ausreisen. Er arbeitete als Fernfahrer und verhalf dort wieder etlichen Menschen zur Flucht. In der Nacht, als sie ihn schnappen wollten, hatte er den richtigen Riecher. Mehr als ein halbes Leben lang waren er und seine Familie auf der Flucht.
Vor einem längst untergegangenen Regime, das sein Leben trotzdem auch heute noch im Griff hat. Zu seiner Tochter hat Karl-Heinz Richter seit 14 Jahren keinen Kontakt mehr. Und die Ehefrau, die die Demütigung im Gefängnis nie überwinden konnte, ist inzwischen in einer Psychiatrie untergebracht. "Das Einzige, was ich bereue, ist, dass ich den Menschen viel zu selten gesagt habe, dass ich sie liebe", schloss Richter.