Ein ganzes Dorf flieht 1945 nach Franken
Autor: Manfred Franze
Eggolsheim, Sonntag, 01. November 2015
Vor 70 Jahren flohen ganze Dörfer vor der russischen Front aus ostdeutschen Gebieten. Mehrere dieser Trecks kamen nach Monate langer Wanderschaft in der Fränkischen Schweiz an.
Christa Schlurick war damals neun Jahre alt, als am 26. Januar 1945 nachts um 22.30 Uhr der Befehl zur Räumung ihres Dorfs kam. Rostersdorf (heute polnisch Trzesow) im Kreis Glogau hatte damals um die 420 Einwohner. Nach dem ersten Weltkrieg hatte sich der Ort von der Landwirtschaft hin zu Handel und Gewerbe entwickelt. Zentrale Bedeutung hatte das Gut der Grafen von Roedern, die im Neuen Schloss residierten und mit 650 Hektar an Feld, Wiesen und Wald dem Ort das Gepräge gaben.
Christa Schlurick erinnert sich, dass sie im kältesten Winter nachts aus dem Bett gerissen wurde und sich in höchster Eile für den Aufbruch fertig machen musste. Ihr Vater war Melder bei der Volksfront und in dieser Nacht in großer Aufregung nach Hause gekommen. Er drängte: "Ihr müsst sofort weg!", durfte natürlich aber selbst nicht mit. Der Wagen war schon bepackt, ihr Pferd musste nur noch eingespannt werden.
Stundenlanges Warten
Christa wurde, wie sie erzählt, "auf einen eiskalten Pferdewagen mit Plane gesetzt und in Decken und dicke Kleidung eingehüllt. Meine Mutter und ich harrten mit unserem Pferdegespann auf der Straße in einer großen Kolonne mit anderen Fuhrwerken und Ochsengespannen des gräflichen Anwesens aus und warteten stundenlang auf das Abfahrtszeichen, das wir von höherer Stelle erhalten sollten." Erica Gräfin von Roedern (1887-1983), deren Mann schon 1937 verstorben war, übernahm zusammen mit ihrer 25-jährigen Tochter Erdmuthe die Führung des Trecks.
Für die 35 Gespanne stellte sie selbst 21 Acker- und zwei Kutschpferde, sechs Zugochsen und einen Traktor zur Verfügung. Weil der Vater nicht mit durfte, bekamen Christa und ihre Mutter einen Kutscher zugeteilt.
Am 27. Januar frühmorgens um 6.30 Uhr setzte sich der Treck bei minus 15 Grad in Bewegung. Mit den Dorfbewohnern wurden auch die Kölner Bombenflüchtlinge ausgesiedelt. Sie wurden nach Glogau transportiert und von dort mit dem Zug in ihre Heimat gebracht. "Ein Chaos ohne gleichen" begann, erinnert sich Christa.
"Die Strapazen für Mensch und Tier waren unvorstellbar groß: Menschen erkrankten bis hin zum Sterben, Babys wurden unter nicht vorstellbaren Verhältnissen geboren und die Missgunst unter den Flüchtlingen war kaum zu ertragen. Alte total verzweifelte Menschen kehrten nach kurzer Fahrt unserem Treck den Rücken und gingen ins verlassene Dorf zurück." Tiefflieger bedrohten laufend den Treck und nur durch einen Sprung in den Straßengraben konnten sie ihre Leben retten, erzählt Christa.
Täglich wurden etwa 20 Kilometer zurückgelegt, übernachtet wurde im Freien, Alte und Kranke blieben zurück, andere wiederum mussten aufgeben, weil ihre Pferde nicht mehr mitmachten.
Am 13. Februar erlebten sie aus der Ferne mit, wie Dresden bombardiert wurde. Und knapp zwei Wochen später mussten 120 Personen mit Kindern von Flöha aus mit dem Zug Richtung Westen geschickt werden, um die erschöpften Zugtiere zu entlasten. Sie kamen ein paar Tage früher als der Treck in Franken an und wurden von Wiesenthau aus auf die Orte um Leutenbach verteilt.
50 Tage unterwegs
Der Treck selbst brauchte länger. Er erreichte über Hof, Marktleugast, Burgkunstadt und Ebensfeld am 17. März 1945 - nach 50 Tagen großer Strapazen - Eggolsheim. Von hier aus wurden sie auf dreizehn Dörfer verteilt. "Da nicht alle Vertriebenen in diesen Orten eine Beschäftigung finden konnten, suchten sich viele Rostersdorfer einen Arbeitsplatz in den nahe gelegenen Städten Forchheim und Erlangen", berichten zwei andere Rostersdorfer Frauen. "Abgesehen von nur wenigen Ausnahmen sind aber alle Rostersdorfer im Raum Forchheim wohnen geblieben." Zwischen ihnen - so die beiden Frauen - ist "der menschliche Kontakt erhalten" geblieben.
Schon 1954 hat das erste Treffen in Eggolsheim stattgefunden. Fast 300 ehemalige Dorfbewohner haben daran teilgenommen und kommen seitdem bis heute immer wieder zum Austausch von Erinnerungen zusammen. Sie selbst organisiert einmal im Jahr ein Treffen der ehemaligen Rostersdorfer, zu dem ins Vereinsheim im Augraben fast immer zwanzig Personen kommen.