Druckartikel: Bilder aus einer zerstörten Welt

Bilder aus einer zerstörten Welt


Autor: Pauline Lindner

Forchheim, Mittwoch, 31. August 2016

Erlanger Studenten haben die Sperrzone rund um Tschernobyl besucht. Eindrucksvoll fangen ihre Bilder die Folgen der Atomkatastrophe von 1986 ein.
Der Vergnügungspark in Tschernobyl ist keinen einzigen Tag in Betrieb gewesen.  Repro: Pfallzmuseum Forchheim


Am 26. April 1986 zerbarst einer von vier Atomreaktoren in der heute zur Ukraine gehörenden Stadt Tschernobyl. Man könnte leichthin denken, dass die Folgen längst abgeklungen sind. Aber nein!
In der Jagdsaison 2013/14 beispielsweise wurde im Forchheimer Raum ein Keiler erlegt, der eine radioaktive Belastung von über 1400 Becquerel aufwies. Als Grenzwert für Nahrungsmittel hatte man schon 1986 eine Belastung von 600 Becquerel festgelegt. Das erlegte Tier musste als Sondermüll entsorgt werden.

Zeitgenossen erinnern sich sicher auch daran, dass das radiologische Institut der Universität Erlangen schon am 29. April 1986 und damit gerade einmal 24 Stunden nach dem Überhitzen des Reaktors einen rapiden Anstieg der Luftradioaktivität feststellte.

Dokumentiert hat diese Auffälligkeiten und ihre Probleme und Folgen eine Forschergruppe um Professor Witthuhn vom physikalischen Institut der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU). Diese Fakten veranlassten Barbara Cunningham von der Energie- und Klima-Allianz Forchheim eine Fotoausstellung der FAU zum Thema nach Forchheim zu holen. Die Ausstellung entstand aus den Fotos, die eine Studentengruppe im Mai 2015 in der Sperrzone rund um den havarierten Reaktorenblock machte.

"Die Fotos waren persönliche Erinnerungsstücke. Beim Sichten erkannten wir, das sie mehr sind. Die Fotos sind visuelle Zeugnisse einer Lebenswelt des 20. Jahrhunderts, die in einer Katastrophe untergegangen ist", beschreibt es Lilia Antipow. Die Dozentin am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte mit Schwerpunkt Osteuropa sprach denn bei der Ausstellungseröffnung in Forchheim von einem "Pompeji des 20. Jahrhunderts".


Puppen im Kindergarten

Die Studenten waren zum Zeitpunkt der Katastrophe noch nicht geboren und haben laut Antipow auch keine besondere persönliche Beziehung zu dieser Region an Pripjat und Dnepr.
Umso mehr freut sie sich darüber, dass sich ihre Studenten intensiv mit dem Thema befasst haben und mit ihren persönlichen Fotos die Historie für die Besucher aufgearbeitet haben.

Philipp Winkler ist einer der Fotografen. Ihm stach beim Besuch der Sperrzone etwas besonders ins Auge. Weniger die Puppen in einem Kindergarten, auch nicht der Reaktorkomplex als solcher, sondern eine riesige Antennenanlage. Er schätzt sie auf 500 Meter Länge und 100 Meter Höhe. Die im Westen "Specht" genannte Einrichtung diente der Abwehr von Interkontinentalraketen und war streng geheim.

Die Besichtigungstour mit einem Führer führte die Studenten in die weniger belasteten Gebiete der 30-Kilometer-Sperrzone um den Reaktorkomplex, vor allem in die Wohnstadt der Reaktormitarbeiter Pripjat. Der Kulturpalast mit seinen Sportanlagen ist heute eine grün überwucherte Betonruine. Der Vergnügungspark mit Riesenrad war keinen einzigen Tag in Betrieb. Er sollte eigentlich am 1. Mai 1986 eröffnet werden - doch das Unglück fünf Tage zuvor machte diesen Plan zunichte.

Bis jetzt stehen die ungenutzten Wagen einer Karussellbahn inmitten von aufschießendem Gehölz. Die sozialistische Musterstadt ist auch im Zerfall noch deutlich zu erkennen. Antipow selbst hat ein eigenes Bild von der Katastrophe und ihren Folgen. Die damals 16-Jährige lebte 1986 im sibirischen Schwerindustriegebiet Kusbaz. Auch dorthin wurden Menschen aus dem Kiewer Raum evakuiert. "Wir bekamen erst Tage später Informationen. Erst im Mai sprach der damalige Staatschef Michail Gorbatschow im Fernsehen. Das war die Zeit der Perestroika. Man sah einen Zusammenhang mit der Krise im System und forderte mehr Offenheit anstelle des Schweigens zu den verbrecherischen Folgen."


Falsche Heroisierung

Sehr vieles wurde heroisiert, meint sie rückblickend. Beispielsweise sei der schnelle Tod vieler der sogenannten Liquidatoren nie in der nötigen Deutlichkeit benannt worden. Liquidatoren nannte man mehr als eine halbe Million Menschen, die zur Eindämmung der radioaktiven Gefahren im Raum Tschernobyl eingesetzt waren. Das Reaktorunglück in der Ukraine war keineswegs das erste in der Sowjetunion. So wurde laut Antipow schon 1958 eine Reaktorunfall im Ural totgeschwiegen.
Die Katastrophe von Tschernobyl steht in den Augen Antipow aber auch für einen Anfang. Zum ersten Mal habe sich auch in der Sowjetunion so etwas wie ein Bewusstsein für ökologische Frage und den Wert der Umwelt herausgebildet. "Es war ein Wendepunkt im Umgang mit der Umwelt", betont sie.

Forchheims Oberbürgermeister Uwe Kirschstein (SPD) erinnerte die Besucher der Ausstellung an die "Atomkraft? Nein, danke!- Plaketten, die auch in Deutschland eine Diskussion über Energiefragen anstießen. Nach dem Unglück ist havarierte Reaktor mit einem Sarkophag aus Beton von der Außenwelt abgeschirmt worden. Längst aber bröckelt dieser, so dass seit 2007 größeren Schutzbau gearbeitet wird. Über 100 Millionen Euro steuert dazu auch die Bundesregierung bei. "Solche globalen Unfallereignisse lassen uns begreifen, wie fragil unsere Energieversorgung ist", folgerte Kirschstein.