Zehn Pflegekräfte müssen Akten wälzen
Autor: Andreas Dorsch
Etzelskirchen, Donnerstag, 08. November 2012
Auch im BRK-Heim im Höchstadter Ortsteil Etzelskirchen stöhnt das Personal unter unsinnigen Auflagen und Vorgaben, die nur die Kosten nach oben treiben.
Warum ist die Altenpflege in den Heimen bei uns in Deutschland so teuer? Wer diese Frage im BRK-Heim in Etzelskirchen den Führungskräften stellt, bekommt sofort eine Vielzahl von Ursachen aufgezählt. Einer der Hauptkostentreiber ist die überbordende Bürokratie.
Heimleiter Jürgen Ganzmann ist überzeugt: "Ohne die Flut von gesetzlichen Vorgaben wäre der Betrieb besser und billiger zu bewerkstelligen." Dieser Aussage wollen die Pflegedienstleiterinnen Beate Bednarski und Nicole Stegmeyer und die Qualitätsbeauftragte Beate Wehr nicht widersprechen.
Sie unterstützen auch Ganzmanns Feststellung, dass heute in der Altenpflege "die Dokumentationsqualität höher gewichtet wird als die Pflegequalität" - und damit die direkte Arbeit am Menschen. Im BRK-Heim in Etzelskirchen sind allein 9,4 Vollzeit-Fachkräfte nur damit beschäftigt, Dokumentationen zu erstellen.
Stimmung wird festgehalten
Dokumentiert werden muss heute praktisch alles, was mit den Bewohnern zu tun hat. Nicht nur die geschluckten Medikamente, die Flüssigkeitsaufnahme und die Menge der Ausscheidungen werden protokolliert, auch der Gefühlszustand eines jeden Bewohners beim gemeinsamen Singnachmittag sollte eruiert und schriftlich festgehalten werden. "Wir sollen sogar notieren, welche Strophe in einzelnen Liedern den Senioren am besten gefallen hat", sagt Qualitätsmanagerin Wehr.
Sie räumt ein, dass Dokumentationen zwar wichtig und notwendig seien, diese aber gezielt und in Maßen erfolgen sollten. Kürzlich hatte das BRK Kindergartenkinder zwei Stunden im Haus, anschließend mussten neun Stunden lang Dokumentationen über diesen Kindergartenbesuch erstellt werden.
Dokumentationen sind aber nur ein kleiner Teil der Pflegebürokratie. Wie alle anderen muss auch das Etzelskirchener Heim jedes Jahr 46 Regelprüfungen von 46 verschiedenen Stellen und Instituten über sich ergehen lassen. Geprüft wird alles, was man sich nur vorstellen kann - von den Aufzeichnungen über die Brandschutzeinrichtungen bis zum Plastikhocker in den Duschen, der als medizinisches Produkt bestimmten Anforderungen genügen muss. Sogar die "Nationale Stelle zur Verhütung von Folter" kommt jetzt nach Etzelskirchen, um zu prüfen, ob die Bewohner ordentlich behandelt werden.
2,7 Milliarden Euro verwenden laut Heimleiter Ganzmann die Krankenkassen inzwischen jährlich für Prüfungen. Wenn der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) mit vier Prüfern in Etzelskirchen anrückt, kostet das beispielsweise rund 9000 Euro, plus den bürokratischen Aufwand im Haus.
Den Menschen begutachten
Helfen würde es schon, wenn die Prüfungen abgestimmt und vereinheitlicht würden, sagt die Heimleitung. Da kommt es durchaus vor, dass der MDK andere Dinge fordert als die im örtlichen Gesundheitsamt angesiedelte Heimaufsicht. Diese kommt beim Personal am besten weg. "Die Mitarbeiter der Heimaufsicht kennen die örtlichen Strukturen und begutachten in erster Linie den Menschen", sagt Heimleiter Ganzmann.
Trotzdem werde nach Ganzmannns Meinung in vielen Fällen "geprüft, um Geld zu verdienen". Prüfungen würden den Heimen Finanzmittel entziehen, aber nichts über die Qualität aussagen. Ganzmann: "Der Aktenordner ist heute das Maß aller Dinge."
Rückt der MDK in Etzelskirchen an, sind dort zehn Mitarbeiter einen Tag lang voll gebunden. Hinterher müssen zu einem 124-seitigen Prüfungsbericht auch noch Stellungnahmen geschrieben werden. Nicht nachvollziehen kann man in Etzelskirchen, wenn der MDK fordert, dass ein an Demenz Erkrankter maximal zehn Minuten brauchen darf, um sein Essen aufzunehmen. Für die Begleitung eines Bewohners auf die Toilette darf eine Pflegekraft höchstens sechs Minuten brauchen. Werden diese Vorgaben nicht eingehalten, gibt es Abzüge in der Bewertung des Heimes.
Eine deswegen eventuell schlechtere Note für das Haus stört in Etzelskirchen aber niemanden. Qualität in der Pflege ist für Ganzmann, wenn jeder Interessierte rund um die Uhr in die Einrichtungen kommen und sich umschauen kann. "Uns ist ein liebevoller Umgang mit den Bewohnern und eine gewisse Herzlichkeit besonders wichtig", sagt Pflegedienstleiterin Bednarski.
Umdenken gefordert
Auch in Etzelskirchen klagt man über Fachkräftemangel. Die Gesellschaft müsse umdenken, fordert Bednarski. Pflegekräfte müssten besser bezahlt und dürften nicht "verbrannt" werden.
Die Arbeitsbelastung und der Druck auf das Personal - auch durch die ständigen Prüfungen - seien enorm. Hinzu kommen jährliche Fortbildungen, wie unter anderem in Infektions- und Feuerschutz, Medikamentenschulung, Hygiene, Erster Hilfe und Aufzugsschulung. Schließlich müssen Altenpfleger auch gerüstet sein, falls Bewohner oder sie selbst mal im Fahrstuhl stecken bleiben.