Von Märchen und Mördern
Autor: Larissa Händel
Adelsdorf, Mittwoch, 18. Oktober 2017
Tanja Kinkel stellt in Adelsdorf ihr neues Buch "Grimms Morde" vor. Im Interview verrät sie unter anderem, was sie zu dieser Geschichte inspiriert hat.
Morde kommen in Märchen andauernd vor. Man mag nur an Schneewittchen denken, das von seiner Stiefmutter vergiftet wird. Oder an die Hexe, die von Gretel in den Backofen gestoßen wird und elendig verbrennt - mal davon abgesehen, dass es sich in dem Fall wohl um Notwehr handelt. Wenngleich die Brüder Grimm die Gewalt in der Originalfassung ihrer Kinder- und Hausmärchen noch viel deutlicher ausschmückten, als sie in den meisten Kinderbüchern heute anzutreffen sind, nahmen und nehmen Morde und Grausamkeiten doch immer einen maßgeblichen Teil in Märchen ein. Das ist charakteristisch für die Gattung, in der möglichst schnell klar werden soll, wer gut und böse ist.
Aus diesem Thema heraus hat die aus Bamberg stammende Bestsellerautorin Tanja Kinkel den historischen Roman "Grimms Morde" geschrieben. Darin wird eindrucksvoll die Zeit geschildert, in der Jacob und Wilhelm Grimm ihre berühmten Märchen sammelten.
Im Kassel des Jahres 1821
Die Geschichte entführt die Leser ins hessische Kassel des Jahres 1821. Nachdem gerade erst der alte Kurfürst Wilhelm I. zu Grabe getragen wurde, ist schon die nächste Leiche innerhalb der Schlossmauern von Wilhelmshöhe zu beklagen. Doch dass es sich bei dem Tod der ehemaligen Mätresse des verstorbenen Kurfürsten nicht um einen natürlichen handelt, ist Oberwachtmeister Blauberg schnell klar. Denn neben Fesselspuren bedeckt eine Wachsschicht das schmerzverzerrte Gesicht der Dame.Der erste Verdächtige ist sofort gefunden, als Jacob Grimm, Hofbibliothekar auf Schloss Wilhemshöhe, auftaucht. Denn er kennt den Ursprung des rätselhaften, auf Plattdeutsch verfassten Zitats auf dem Zettel, den die Tote bei sich trug, nur zu gut. Es stammt aus einer Geschichte der Grimmschen Märchensammlung. Es wird nicht leichter für Jacob und seinen Bruder Wilhelm, als auch noch eine weitere Leiche, vergiftet mit einem Apfel und ausgestattet mit einem weiteren Grimm-Zitat, gefunden wird. Auf der Suche nach dem wahren Mörder werden die Grimms von der späteren Dichterin Annette von Droste zu Hülshoff und ihrer Schwester Jenny unterstützt.
Obwohl sich vordergründig alles um die Aufklärung der Morde dreht, so sind die Ermittlungen doch auch immer mit den zentralen Themen dieser Zeit verknüpft. In klugen und humorvollen Dialogen fließen dabei überzeugend die Spannungen zwischen den einzelnen Schichten Bürgertum und Adel sowie gesellschaftlichen Rollenbildern von Mann und Frau ein. Ein authentisches Porträt von der Zeit nach Napoleon und vom Beginn der gar nicht so langweiligen Biedermeierzeit, das ein Stück deutscher Literaturgeschichte vermittelt. Oder wie Tanja Kinkel in ihrem Nachwort schreibt: "Märchen, Krimi und Charakterdrama in einem Roman vereint".
Am Freitag, 27. Oktober, um 19.30 Uhr liest Tanja Kinkel bei Bücher-Schmidt in Adelsdorf aus "Grimms Morde". Der Eintritt kostet zwölf Euro. Um Reservierung unter der Telefonnummer 09195/992057 oder unter der E-Mailadresse buecher-schmidt@t-online.de wird gebeten.
Das Interview
Wie kamen Sie darauf, die Brüder Grimm in einen Mordfall zu verwickeln?Tanja Kinkel: Als ich vor ein paar Jahren die neue Biografie der beiden von Steffen Martus las, erinnerten sie mich von den Persönlichkeiten her spontan an Sherlock Holmes und Dr. Watson: Jakob sehr scharfzüngig, bei den Leuten aneckend, ein origineller Kopf, Wilhelm versöhnlicher und geselliger, aber auch hin und wieder sehr passiv-aggressiv, wenn man ihn näher kennt.
Ihre Bücher sind nicht nur Reisen an immer neue Orte, sondern auch Zeitreisen in verschiedene Epochen. Ob die Mongolei im 15. Jahrhundert, Rom im Jahr 7 nach Christus oder Paris während des 30-jährigen Krieges. Was genau hat Sie am Schauort Kassel zu Anfang des 19. Jahrhunderts gereizt?
Es brodelte unter der scheinbar friedlichen Oberfläche. Das Trauma der napoleonischen Kriege war noch sehr gegenwärtig, die mit dem Ende der französischen Herrschaft verknüpften Hoffnungen hatten sich nicht erfüllt, stattdessen ging es politisch mit Volldampf rückwärts, Zensur und Überwachung waren allgegenwärtig, der durch die Kriege geweckte Patriotismus ging in Nationalismus über und suchte sich leichte Feindbilder, um sich die eigene Misere erklären zu können. Kurzum, Kassel im Jahr 1821 erinnert mich sehr an unsere Gegenwart.
Inwieweit sind die beiden Geschwisterpaare Spiegel ihrer Zeit?
Sie sind durch die jeweils unterschiedlichen Rollenerwartungen geformt, selbst wenn sie gegen diese rebellieren. Annette von Droste schrieb seit ihrer Kinderzeit und hatte von Anfang an den Ehrgeiz, zu veröffentlichen, aber sowohl als Frau wie auch als ledige, adlige Tochter aus gutem Hause war es undenkbar, dies ohne Einverständnis ihrer Familie, speziell ihrer Mutter zu tun. Es sollte noch Jahre dauern, bis sie der Mutter diese Erlaubnis abgerungen hatte.
Jacob Grimm dagegen wäre es nicht im Traum eingefallen, seine (zur Handlungszeit bereits verstorbene) Mutter auch nur um ihre Meinung zu seinen Publikationen zu bitten, geschweige denn um Erlaubnis. Aber umgekehrt war er als bürgerlicher Mann in einer finanziellen Zwangsituation, wie es ein Fräulein von Droste mit gesicherter Leibrente eben nicht war: Jacob musste jahrelang als Ältester für fünf jüngere Geschwister und natürlich für sich selbst sorgen.
Wie kamen Sie darauf, die Brüder Grimm und die Schwestern von Droste zu Hülshoff gemeinsam ermitteln zu lassen?
Tatsächlich bestand eine jahrelange Beziehung zwischen ihnen, die begann, als Wilhelm Grimm 1813 Jenny und Annette von Droste kennen lernte. Mit Jenny korrespondierte er ein Leben lang, Annette und er konnten sich wechselseitig nicht ausstehen, doch die Drostes besuchten die Grimms in Kassel, und beide Schwestern trugen nachweisbar fünf Geschichten zu den "Kinder- und Hausmärchen" bei. Jenny und Annette standen einander so nahe wie Wilhelm und Jacob, doch im Gegensatz zu den übrigen drei Hauptfiguren war Jenny keine Literatin. Das erschien mir eine interessante, konfliktverheißende Grundkonstellation, zumal Annette ja später mit der "Judenbuche" eine der frühesten Kriminalerzählungen in der deutschen Literatur verfasste und mir damit zur Detektivin prädestiniert erschien.
Wie haben sich die Figuren verändert/entwickelt?
Zunächst einmal habe ich versucht, mich ihnen anzunähern, sie zu verstehen. Es gibt ja neben dem Werk nicht nur Biografien, sondern auch Briefwechsel, autobiografische Fragmente, die einem das Gespür für die "Stimmen" dieser vier Menschen geben. Dann fragte ich mich, wann konkret der Roman spielen sollte, und mit der Entscheidung für Kassel im März 1821 gingen mehrere Charakterisierungsentscheidungen einher.
Annettes erste große Lebenskrise, ihre sogenannte "Jugendkatastrophe", liegt erst ein paar Monate zurück, und wie sie diese verarbeitet, ist ein wichtiges Thema des Romans. Jenny wiederum, die zu diesem Zeitpunkt schon Jahre für Wilhelm Grimm geschwärmt hat, entschließt sich, die Natur ihrer Beziehung endlich zum Thema zu machen. Jacob hängt noch der Umstand nach, dass er während der französischen Besatzungszeit für Jerome Bonaparte gearbeitet hat, und außerdem sind sowohl er wie auch sein Bruder bei allem Hang zur Tradition zu hellsichtig, um nicht zu sehen, dass die Kurfürsten in Hessen-Kassel miserabel sind. Alle vier Charaktere müssen sich fragen: Wer bin ich, und was will ich vom Leben?
Vieles in "Grimms Morde" ist wirklich geschehen. Wo hat Ihre Fantasie eingesetzt?
Die Todesfälle in dem Roman sind fiktiv, nur inspiriert von mehreren unterschiedlichen Ereignissen. Es gab in Kassel etwa eineinhalb Jahre später einen mysteriösen, nie geklärten Mord, der dann die sogenannte Drohbriefaffäre nach sich zog. Außerdem sind die Todesumstände einer der vier berühmtesten Mätressen Wilhelms I., soweit ich weiß, immer noch nicht geklärt. Ich ließ mich von beiden inspirieren und machte einen erfundenen Mord daraus.
Erinnern Sie sich noch an Märchen (der Brüder Grimm) aus Ihrer Kindheit und wie sie damals auf Sie gewirkt haben?
Oh, ich erinnere mich sogar sehr gut - und tat es schon, ehe ich im Rahmen der Recherche für den Roman sämtliche Märchen noch einmal las. Meine Lieblingsmärchen als Kind waren: "Brüderlein und Schwesterlein", "Jorinde und Joringel" und "Einäuglein, Zweiäuglein, Dreiäuglein". Ich kann nicht behaupten, dass mich die Grausamkeiten in den Märchen - etwa die abgehackten Zehen und Fersen der Stiefschwestern in "Aschenbrödel" - erschreckten; das nahm ich alles als selbstverständlich. Auch Menschen mit mehr (oder weniger) als zwei Augen glaubte ich ohne weiteres. In der Rückschau betrachtet: Märchen, in denen Heldin oder Held einen geliebten, verlorenen oder verwandelten Menschen rettet, was auf die ersteren beiden genannten zutrifft, faszinierten mich wohl besonders.
Sie schreiben, dass Annette von Droste zu Hülshoff in vieler Hinsicht zu früh geboren wurde. Ihr ganzes Leben lang stand sie im Konflikt, ihrer Berufung als Dichterin nachzugehen und gleichzeitig dem Frauenbild zu entsprechen, das die Gesellschaft von ihr erwartete. Erzählen Sie bitte etwas von der Rolle der Frau zu dieser Zeit.
Hier muss man natürlich je nach Stand differenzieren. Von einer Bäuerin wurde erwartet, dass sie fest mit anpackte. Die Frage nach Arbeit oder nicht stellte sich erst gar nicht. Ein Verzicht auf ihre Arbeitskraft wäre undenkbar gewesen. Doch Entscheidungen über das Wohl und Wehe der Familie traf der Mann. Eine bürgerliche Frau wie beispielsweise Lotte, die Schwester der Grimms, die zum Handlungszeitraum noch nicht verheiratet war, sollte zwar in der Lage sein, den Haushalt zu führen, doch gleichzeitig auch gepflegt und gebildet genug sein, um auch Gäste zu empfangen und mit ihnen Konversation zu betreiben. Was eigene Ziele betraf, war jedoch die Ehe das einzige, was man ihr zubilligte.
Eine Adlige wie Annette hatte im Gegensatz zu Lotte zwar ein eigenes (nicht sehr großes) Grundeinkommen nach dem Tod ihres Vaters zu erwarten, doch auch für ihren Lebensentwurf gab es eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Ehe oder ein Dasein als "Stiftsdame", für die Wohltätigkeit wirkend. Partnerwahl frei von Familieninteressen wäre undenkbar gewesen, Geistreich in Salons zu sein war durchaus ein Plus, doch auf keinen Fall zu sehr, und keinesfalls mehr als die Männer.
Als Annette vom Kind zur Frau wurde, war genau das ihr Problem: Auf einmal warf man - und vor allem Mann! - ihr vor, zu "brillieren", womit gemeint war, dass sie in Gesellschaft Männer in den Schatten stellte. Seine Geistesgaben zu verstecken und nur auf Gefühl zu setzen, war jedoch auch keine Lösung. Während man Emotionalität von Frauen forderte und erwartete, durfte auch diese sich nur in sorgfältig gesteckten Rahmen bewegen, sonst folgten schnell gesellschaftlicher Ruin. Annettes Zeitgenossin, Clemens Brentanos erste Frau, konnte davon ein Lied singen.
Neben den Unterschieden von Mann und Frau greifen Sie auch immer wieder die Ungleichheit zwischen Bürgertum und Adel auf. Inwieweit lassen sich diese Unterschiede an den Hauptfiguren festmachen?
Ich sprach schon darüber, dass die Grimms Selbstverdiener waren und sein mussten, während die Drostes diese Existenzsorge nicht hatten. Außerdem geht der Stiefonkel der Drostes, August von Haxthausen, nicht ganz zu Unrecht davon aus, dass ihn die Polizei Kassels ganz anders behandeln wird als die bürgerlichen Grimms, auch wenn er das Ausmaß seines Privilegs in dieser Hinsicht überschätzt.
Eheliche Verbindungen zwischen Bürgertum und Adel waren zwar nicht mehr unmöglich, aber immer noch die Ausnahme, nicht die Regel. (Im konkreten Fall der Grimms und der Drostes kam übrigens auch die Religionsdifferenz hinzu - erzprotestantisches Kassel versus strikt katholisches Münster -, die durch alle Stände hindurch damals noch eine erhebliche Rolle spielte.) Jenny und Annette von Droste sind als Adlige in der Lage, mit dem für die Finanzen von Hessen-Kassel zuständigen Hofmarschall und dessen Mutter als Ebenbürtige gesellschaftlich zu verkehren und seine Gastfreundschaft in Anspruch zu nehmen, während ein Jacob Grimm, der ihm im Rahmen seines Amts begegnet, gesellschaftlich weit unter ihm steht.
Wo haben Sie recherchiert?
Zunächst, wie immer, in der Münchner Staatsbibliothek, später dann in Kassel und Münster. Obwohl die Orte in meinem Roman nicht mehr vorkommen, bin ich meinen Romanfiguren auch bis an ihr Lebensende gefolgt, stand in Berlin am Grab der Grimms, und am Bodensee auf der Meersburg neben der Büste von Annette, die dort ihr Leben beschloss.