Das Kind steht im Mittelpunkt
Autor: Redaktion
Erlangen, Donnerstag, 03. November 2016
Bei der modernen Variante des Jugendfußballs gibt es keine Ersatzbank, die den Kindern die Lust am Sport nimmt. Ein Wahlfranke will das System umkrempeln.
Keine Ersatzbank, keine Konflikte mit Eltern, dafür zufriedene Kinder und die Aussicht auf eine große Zahl an Messis und Götzes. Funiño könnte die Lösung aller Probleme im deutschen Fußball sein. Probleme? Als amtierender Weltmeister, der in den vergangenen sechs EM- und WM-Turnieren mindestens das Halbfinale erreicht hat, beneidet uns die ganze Welt. Grundlage des Erfolgs sind die Stützpunkte des Deutschen Fußball-Bunds, die nach den ernüchternden Turnieren Anfang des Jahrtausends zur besseren Förderung der Talente eingeführt wurden.
Funiño gibt es schon viel länger als die 366 Stützpunkte, doch "das Konzept lag Jahrzehnte in der Schublade", sagt Matthias Lochmann vom Institut für Sportwissenschaften der Universität Erlangen-Nürnberg. Horst Wein entwickelte die Variante für Kinder im Alter von sechs bis zehn Jahren Anfang der 80er.
Seit ein paar Jahren versucht Lochmann, die Fußball-Variante populärer zu machen. "Ich peile in den nächsten zehn Jahren die komplette Restrukturierung des Spielbetriebs im Kinderfußball bis 15 Jahre an", sagt der Professor, der 2005 zum ersten Mal mit Funiño in Berührung kam. "Ich bin als Jugend-Trainer im klassischen Spielsystem Sieben-gegen-sieben oft an meine Grenzen gestoßen: Die starken Spieler standen im Vordergrund und wurden gefördert, während die schwächeren entweder gar nicht zum Einsatz kamen, ewig die Ersatzbank drückten oder nur auf dem Platz herumstanden. Dies führte zu einem Motivationsabfall bis hin zum frühzeitigen Verlassen des Vereins", erklärt der 45-Jährige.
Real Madrid hat Feuer gefangen
Lochmann ergriff die Initiative. Neun Jahre dauerte es, bis das Interesse des DFB und der Landesverbände geweckt war. Inzwischen hat er unter anderem Mainz 05, Darmstadt 98, wo er einst selbst Fußball spielte, und die SpVgg Greuther Fürth überzeugt. Real Madrid will das Konzept für all seine Fußballschulen hierzulande übernehmen. Auch in Sachen Funiño sind die amtierenden Europa- und Weltmeisternationen also führend.Funiño will das Zusammenspiel fördern, auch leistungsschwächere Kinder einbeziehen. Laut Lochman bekämen die jungen Sportler zehnmal mehr Ballkontakte als in einem herkömmlichen Training und müssten nicht nach Alter getrennt werden. Und "der Trainer steht nicht mehr in der Schusslinie der Eltern, die sich beklagen, wenn ihre Kinder nicht spielen", sagt der Wissenschaftler, der sich das Konzept auch im Hand- oder Basketball vorstellen kann. Laut Funiño-Regelwerk ist es Erwachsenen - auch den Coaches - verboten hineinzurufen. Der Nachwuchs soll taktische Entscheidungen selbst treffen.
Vereine hätten mit dem neuen Konzept, das in mehr als 50 Varianten auch räumliches Denken und Raumaufteilung oder kompakte Angriffsformationen schult, motiviertere Kinder und könnten ihre Sportflächen besser nutzen, da pro Fußballplatz bis zu 64 Spieler auf acht Feldern Platz fänden. Kleinere Klubs bräuchten sich nicht mehr auf die Suche nach Kooperationspartnern zu machen, um genügend Spieler zu haben. Lochmann bedauert, dass es 30 Jahre gedauert habe, eine innovative Idee anzuwenden und eine klassische Spielordnung von negativen Effekten zu reinigen. "Aber natürlich gibt es auch noch offene Fragen", räumt der 45-Jährige ein. fma/rup
Funiño-Fakten
Hockeytrainer liefert Fußballkonzept Funiño ist keiner Schnaps-, sondern einer Weinidee entsprungen. Der nach Spanien ausgewanderte Deutsche Horst Wein war Hockeynationalspieler und Trainer sowohl der deutschen als auch der spanischen Auswahl. Nach Kritik seines Sohnes Christian entwarf er Anfang der 80er Jahre ein kindgerechtes Training, das er später auf den Fußball übertrug. Während Wein im Februar 74-jährig starb, steht Funiño drei Jahrzehnte nach der Erfindung kurz vor dem Durchbruch. Drei gegen drei mit vier Minitoren auf Kleinfeld Statt den für ein Kleinfeld üblichen sieben agieren bei Funiño nur drei Spieler pro Team. Der vierte ist ein Rotationsspieler - nach jedem Treffer wird der Torschütze gegen diesen ausgetauscht. An die Grundlinien des 20x25 bis 25x30 Meter großen Felds werden vier Tore gestellt, die zwei Meter breit und einen Meter hoch sind. Einen Torwart gibt es nicht. Alle Kinder spielen sowohl im Angriff als auch in der Abwehr. Eine Partie dauert sieben Minuten. Tore dürfen nur in einer sechs Meter tiefen Schusszone erzielt werden.
Ein Festival für alle Nachwuchskicker Auf Funiño-Festivals treffen sich die teilnehmenden Mannschaften, um in mehren Duellen gegeneinander anzutreten. In der Regel haben auf einem normalen Großfeld acht Funiño-Felder Platz, es können also bis zu 64 Kinder gleichzeitig spielen. Der Nachwuchs wird nach Leistung aufgeteilt. Stärkere spielen gegen Stärkere, Schwächere gegen Schwächere. Gewinnt ein Team, "steigt es auf" und tritt gegen eine stärkere Mannschaft an und umgekehrt. Frustrierende Ergebnisse sollen ausbleiben, Anfänger und Top-Talente maximal gefordert und gefördert werden.
Franken ist eine Funiño-Hochburg Dank Sportprofessor Matthias Lochmann befinden sich vier der sechs bayerischen Funiño-Pilotregionen in Franken. Im "Aischgrund", "Pegnitzgrund", "Neumarkt/Jura" und "Erlangen/Nürnberg" finden regelmäßig Festivals statt. Dafür hat Lochmann die Vereinsverantwortlichen geschult. In Seminaren erfuhren die Ehrenamtlichen, welche Utensilien sie brauchen, wie die Spielfelder aufgebaut werden oder wie Betreuung und Anleitung der Kinder funktionieren.
Von Funiño zu Exerlights Matthias Lochmann hat Funiño weiterentwickelt. Indem er die Leibchenfarbe der Kinder per Handy-App verändert, müssen sich diese auf plötzlich wechselnde Teamkollegen und Gegenspieler einstellen. Auch wer auf welche Tore schießen muss, kann der Trainer mit LED-Lichtern steuern. Da der Name Funiño rechtlich geschützt ist, nennt Lochmann seine Variante "Exerlights" (englisch exercise = Übung, light = Licht). Ab Februar soll es losgehen. rup
Ein Interview mit dem Deutschland-Pionier von Funiño
Er verspricht Spieler wie Mesut Özil im Überfluss, geklonte Manuel Neuers und ein Abo auf den Gewinn der Welt- und Europameisterschaft. Ist Matthias Lochmann aus Groß-Gerau in Hessen, Professor für Sportwissenschaften an der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg, ein Spinner, ein Träumer oder der Wegbereiter des erfolgreichen Fußballs im 21.
Jahrhundert?Wie sind Sie - viele Jahre nach dessen Entstehung - auf Funiño gestoßen.
Matthias Lochmann: Ich habe vor gut zehn Jahren Erfinder Horst Wein kennengelernt, als ich die U15-Junioren des FSV Mainz 05 trainierte. Sein Modell lag all die Zeit in der Schublade. Vor zwei Jahren hat mein inzwischen sieben Jahre alter Sohn Mika mit Fußball angefangen. Beim TSV Neunkirchen am Brand bin ich sein Trainer. Ich wollte unbedingt etwas am eingestaubten System des Jugendfußballs ändern. Zuerst gab es Funiño-Freundschaftsspiele, seit Sommer dieses Jahres die Festivals.
Was sind Ihre größten Kritikpunkte am bisherigen System?
Es wird zu viel ausgesiebt. Ist der Kader groß, bleiben manche am Spieltag zu Hause. Als nächstes schmoren die Auswechselspieler auf der Ersatzbank. Und schließlich konzentriert sich das Spiel auf eine Spielertraube mit je zwei, drei starken Akteuren. Der Rest verliert die Lust am Fußball, so dass 80 Prozent der Kinder - darunter viele Talente - auf der Strecke bleiben. Der Ball und die Tore sind viel zu groß. Übertragen auf Manuel Neuer müsste dieser ein Tor hüten, das 3,22 Meter hoch und 8,04 Meter breit ist.
Apropos Torwart: Verlieren wir nicht unseren Status als Torwart-Nation, wenn es diese Position im Jugendfußball nicht mehr gibt?
Im Gegenteil: Wir bekommen mehr Torhüter, die mitspielen wie Manuel Neuer. Aktuell scheiden Kinder, die zwischen die Pfosten gestellt werden, nach wenigen Jahren aus und werden durch Feldspieler ersetzt. Außerdem gibt es Funiño-Übungen mit Torhütern. Aber auch da wechseln wir die Positionen durch, da die frühe Fixierung schädlich ist.
Keine Ersatzbank, kein deutlich stärkerer Gegenspieler, keine hohen Niederlagen. Verlernen die Kinder nicht, sich durchzusetzen und mit Rückschlägen umzugehen?
Bei Drei-gegen-drei kann sich keiner verstecken. Jedes Kind steht gegenüber seinen Mitspielern in der Verantwortung. Der Nachwuchs ärgert sich nach wie vor über Niederlagen, kann sich aber zehn Minuten später vielleicht schon wieder über einen Sieg freuen. Es gibt genauso Emotionen von himmelhochjauchzend bis zu Tode betrübt, nur gehen die Kinder nicht mit dem negativen Erlebnis eines 0:21 nach Hause. Der Anreiz besteht darin, in eine leistungsmäßig höhere Klasse aufzusteigen.
Wenn nicht nur mehr Kinder am Ball bleiben, sondern diese auch viel besser geschult werden: Haben wir die EM- und WM-Titel in 15, 20 Jahren gepachtet?
Genau das, denn dann gäbe es mehr als einen Özil und das dauerhaft. Aber wir hätten auch einen wesentlich attraktiveren Amateurfußball, denn die Zahl der Profis in Deutschland wird bei etwa 700 konstant bleiben. Der Rest erhöht das Niveau in den unteren Ligen.
Sollte man so ein erfolgsversprechendes Konzept nicht auch auf Erwachsene übertragen?
Es ist sinnvoll, darüber nachzudenken, aber ab einem gewissen Alter sind die Positionen zu festgefahren. Einige müssten sich viel mehr bewegen, mehr anstrengen als jetzt. Eher denkbar ist die Anwendung im Großfeldbereich der Jugend. Was wäre zum Beispiel, wenn die Spielzeit gedrittelt würde und die Mannschaft gewinnt, die zwei Drittel für sich entscheidet? Allerdings darf der Trainer in jedem Abschnitt maximal 60 Prozent gleiches Personal einsetzen.
Die Fragen stellte Daniel Ruppert
Ein Kommentar von Sportredakteur Daniel Ruppert
Es gebe noch offene Fragen, räumt Matthias Lochmann ein. Zum Beispiel, wie die Einteilung der Kinder nach Leistung funktioniert, wenn ein Verein in einer Altersklasse nur über vier oder fünf Spieler verfügt. Der Professor wirbt für eine Idee, an der er finanziell beteiligt ist, doch der 45-Jährige tritt auch als Vater, als ehemaliger Fußballer, als lizenzierter Trainer und seit der Beteiligung am Aufbau der Nachwuchsleistungszentren der Profivereine als geachteter Experte auf. Innovationen haben es - gerade im Fußball - schwer, doch auch das vor wenigen Jahren noch verteufelte Futsal erlebt dieser Tage mit dem ersten Länderspiel seinen Durchbruch. Geben wir Funiño eine faire Chance.