Ich weiß gar nicht genau, wann es angefangen hat. Ich glaube, das deutlichste Zeichen gab es, als ich meine Tochter Nicola eines Morgens zur Schule brachte und etwas noch nie Dagewesenes passierte. Es ist so unverhofft gekommen, ohne Vorzeichen, ohne Ansage. Es war vielleicht nur eine Kleinigkeit, deren Bedeutung mir erst jetzt klar wird.

Beim Aussteigen spitzte ich meine Lippen zu dem obligatorischen "Auf-Wiedersehen--ich-habe-Dich-lieb-und-wir-sehen-uns-heute-Abend-Kuss". Und es passierte: Nichts. Keine Erwiderung, kein "Ich-hab-Dich-auch-lieb-Kuss". Eine knallende Autotür und die Erkenntnis, dass ich für die neben dem Auto stehende Großmutter sicher ziemlich dämlich ausgesehen habe, mit meinen gespitzten Lippen. Ich glaube, da war der Anfang, denn auch am nächsten Tag unterlag ich der Ignoranz meines väterlichen Ansinnens.

Ich glaube an diesem Tag bekam ich Pubertät.

Natürlich sprach ich Nicola auf die fehlende Tradition an, die wir rund sieben Jahre seit der Kindergartenzeit gepflegt haben. Die Antwort war ernüchternd: "Papa, wir sind zu alt dafür!" Wir! Nicht sie, nicht ich - WIR! Ich mit 45 und sie mit damals zwölf - zu alt!

"Du schämst Dich wohl für Deinen Papa", versuchte ich sie in eine emotionale Zwickmühle zu bringen. "Nee, Du bist ganz in Ordnung", meinte sie lakonisch. Aber es passe halt nicht mehr. Was sollen die anderen denken? Und außerdem fände sie so nie einen Freund, wenn die Jungs sehen, dass sie ihrem "Alten" noch einen Abschiedskuss gebe.

Abgesehen von dem despektierlichen "Alten", musste ich mir eingestehen, dass ich noch nicht so weit war, dass ich mir über einen "Freund" Gedanken machen musste. Ich brauche noch Zeit. Keinen Schwiegersohn. Aber das traute ich mich nicht zu sagen. Meine Tochter schien so erwachsen. Scheiß Pubertät!

Und was sagt Nicola?
"Papa nervt - Abschiedskuss, ich bin fast erwachsen. Außerdem hat er ja Mama, wenn er unbedingt küssen will."