Zeitoasen im stressigen Alltag nutzen
Autor: Dr. Carolin Herrmann
Coburg, Mittwoch, 17. Oktober 2012
Auf die Suche nach der verlorenen Zeit begab sich die Hochschule Coburg bei einem Vortrags- und Diskussionsabend. Zeitforscher Jürgen P. Rinderspacher analysierte die gesellschaftlichen Grundlagen und den individuellen Umgang mit der Zeit.
Sie ist lang und kurz zugleich, verheißungsvoll und längst verloren. Heute hat sie keiner mehr: Zeit ist den Menschen ein Mysterium, aber durchaus erforschbar. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, im nun auch schon mystifizierten Sinne von Marcel Proust, fanden sich am Dienstag ein Zeitforscher und andere hochqualifizierte Zeit-Erfahrer auf dem Podium der Hochschule Coburg ein.
Die Vortrags- und Diskus sionsveranstaltung unter Leitung von Christian Holtorf, dem Leiter des Wissenschafts- und Kulturzentrums an der Hochschule Coburg, war der zweite Teil einer ambitionierten Ringvorlesung quer durch Bayern, die in Kooperation mit dem Baye rischen Philologenverband durchgeführt wird. Dieser Ringvorlesung geht es um "VerANTWORTung leben. Ethik der gesellschaftlichen Verantwortung". Interdisziplinär sollen Studenten, Lehrenden und Interessierten aus dem Tunnel ihrer Fachverpflichtung Blicke in das komplexe Grundgefüge unserer Gesellschaft ermöglicht werden, sehr wohl mit dem Impuls, die eigenen Handlungsspielräume auszuloten.
Als brisantes zeitpolitisches Problemfeld analysierte Jürgen P. Rinderspacher vom Institut für Ethik und angrenzende So zial- wissenschaften der Universität Münster unseren heutigen Umgang mit der Zeit.
Zuvor unvorstellbare Freiräume
Das "Unbehagen" mit und an der Zeit, das heute wohl den größten Teil der Gesellschaft erfasst hat und das gravierende, vor allem auch gesundheitliche Folgen hat, wird gespeist aus den herrschenden gesellschaftlich-kulturellen Strukturen und individuellen Verhaltensweisen.
Entgrenzte Arbeits- und Lebensrhythmen, zunehmende Forderungen der Wirtschaft, allzeitliche Verfügbarkeit und die erhebliche Beschleunigung unserer Handlungen in Folge der medientechnologischen Revolution haben dazu geführt, dass die dem Einzelnen zur Verfügung stehende Zeit immer fremdbestimmter wird. Dabei haben wir heute Freiräume, die vor hundert Jahren unvorstellbar waren.
Also sollten wir uns laut Rinderspacher auf die Suche nach der gewonnenen Zeit machen. Denn obwohl die Strukturen sehr dominant sind, habe der Einzelne sehr wohl Möglichkeiten der Gestaltung. "Stellen Sie sich vor, es ist verkaufsoffener Sonntag, und keiner geht hin?", nannte er ein Beispiel.
Seine Beschreibung der heutigen Missachtung von Jahrtausende alten zivilisatorischen Errungenschaften wie der "institutionalisierten Zeitoase Sonntag" einschließlich des mühsam erkämpften freien Samstages und der geradezu hysterischen Ergebenheit an stets sofort zu erfüllender E-Mail-Korrespondenz, Handy und Internet riefen in der anschließenden Gesprächsrunde auf dem Podium und im Auditorium eine diffuse Wolke an Stichworten hervor, Zeichen dafür, wie alles durchdringend und elementar die Veränderung unseres Zeit-Verhaltens wirkt, dass wir am Anfang der Analyse der Zeitproblematik stehen, das Feld aber nicht einmal überschaubar ist.
Der aus Neustadt stammende Fritz Reheis vom Lehrstuhl für Politische Theorien in Bamberg beklagte einen enormen Schub in Richtung Ökonomie der Zeit statt in Richtung Ökologie. Er erinnerte daran, dass der Einzelne in die herrschenden sozialen Strukturen hineingeboren und eingepasst wird und dass es ein weiter Weg ist, bis es sich der Einzelne erlauben kann, individuell zu handeln.
Treiben oder getrieben werden
Petra Gruner, Studiengang Versicherungswirtschaft in Coburg, führte die Möglichkeiten des Zeitmanagements an und fragte alltagsbezogen: "Werden wir getrieben oder treiben wir selbst? Wir unterwerfen uns selbst vielen Zwängen." Pfarrer Roland Huth, katholische Pfarrgemeinde St. Augustin Coburg, beobachtet die "Hysterie vieler Familien, den Sonntag zu gestalten. Wir müssen neu lernen, mit unserer Zeit verantwortungsvoll umzugehen." Kritisch gefragt wurde nach den Spielräumen, die beispielsweise alleinerziehende Mütter oder Schüler im G8 tatsächlich haben.
Auch Antworten müssen heute stets schnell formuliert werden. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit gab es am Dienstag in der Hochschule Coburg Ansätze, aber keine Lösungen, was stets ebenfalls Unwohlsein, neuen Druck auslöst. Vielleicht müssen wir zunächst lernen, wie Pfarrer Huth zu bedenken gab, mit Geduld den Fragen Zeit zu lassen.