Wo der Liebesfrühling begann
Autor: Dr. Carolin Herrmann
Coburg, Freitag, 05. August 2016
Auch das Coburger Puppenmuseum hat ein interessantes Kapitel zu Friedrich Rückert zu erzählen, auch wenn das "Dachstüblein" nur noch Depot ist.
Er war und ist intensiv mit Coburg verbunden. Und dieses Gedenkjahr zu seinem 150. Todestag holt ihn auch wieder stärker in unser Bewusstsein: Friedrich Rückert (1788 - 1866) gehörte als Dichter wie als Sprachwissenschaftler im 19. Jahrhundert zu den ganz Großen. Irgendwann begann man die Nase zu rümpfen. Und übersah dann lange vor lauter Bäumen den Wald. Da Rückert die Welt poetisch wahrnahm und sein Leben dichterisch bewältigte, schrieb er unablässig, auch über Alltägliches, auch ohne jede Zeile 153 Mal zu drehen.
Im Wald gibt es Gigantisches und Zartes, elegant Hochgewachsenes und Gestrüpp. Im Rückertschen Gedichte-Wald stößt man auf Wunderbares. Es hat schließlich seinen Grund, dass Rückert-Zitate bis heute oft Verwendung finden, bisweilen ohne dass man sie identifiziert.
Da steigen wir doch mal die alten Stufen hoch ins Coburger Puppenmuseum.
Denn Christine Spiller, seit 2007 Leiterin des vom Ehepaar Lossnitzer gegründeten Puppenmuseums, hat mit den ihr zur Verfügung stehenden, reizvollen Mitteln ein eigenes Kapitel Rückert aufgeschlagen.
Die von der Landesbibliothek ausgeliehene Prachtausgabe des "Liebesfrühlings" in der extra eingerichteten Vitrine ist nur das eine; sie verweist auf den Beginn des produktiven Lebens von Friedrich Rückert in Coburg. Und auf seine oben beschriebene Präsenz im Heutigen. Der "Liebesfrühling" gehörte im 19. Jahrhundert in jeden Bücherschrank. Was lag näher für die selbst nicht so sprachmächtigen Verliebten aller Jahrzehnte seither, als sich bei Rückerts Versen zu bedienen. Die so ein Eigenleben gewannen und bis heute weitergegeben werden, ob mit oder ohne Autorenvermerk. Egal, Rückert lebt.
Und begonnen hat der "Liebesfrühling" eben in diesem alten Coburger Haus direkt gegenüber der Ehrenburg.
In ihren lebendigen Führungen erzählt Christine Spiller, wie niedergeschmettert Friedrich Rückert vom Tod seines jüngeren Bruders Heinrich im Jahr 1818 war. 1820 entschloss er sich, sein Schaffen wieder voranzubringen und ging nach Coburg, um die herzogliche Hofbibliothek für seine Sprachstudien zu nutzen. Er kam als "Zimmerherr" unter bei der Witwe Frau von Gersdorf, die das zweite Geschoss des heutigen Hauses Rückertstraße 2 - 3 bewohnte.
Sie flogen einander zu
Unter ihr wohnten die Besitzer des Hauses, Hofarchivar Albrecht Fischer mit seiner Familie. Dessen Adoptivtochter Luise Wiethaus-Fischer war oft zu Gast bei der Frau von Gersdorf. So nahm diese Geschichte ihren schnellen Lauf. Luise, selbst von kleiner, zarten Gestalt, war beeindruckt von dem Zweimeter-Hünen mit dem wallenden Haar. Er, nach einer Reihe von Zurückweisungen, spürte, dass ihm da eine Seele zuflog. Luise war gebildet, ihm intellektuell durchaus gewachsen. Mit ihr konnte er über den Tod seines Bruders sprechen. So begann der Liebesfrühling. Der, wie konnte es anders sein bei Rückert, gleich 300 Liebesgedichte hervorbrachte, später zusammengefasst im "Liebesfrühling". Am 26. Dezember 1821 wurde bereits geheiratet.
Luises in Coburg gut situierte Eltern waren wenig begeistert, denn welches Auskommen hatte der Poet zu bieten? Der mühte sich redlich, Rückert war ein bodenständiger, vernünftiger Franke. Er wollte Lehrer am Casimirianum werden, es klappte nicht. Das Sprachgenie schlug sich durch mit Übersetzungen, Lektorentätigkeit, kleineren Veröffentlichungen. 1826 kam endlich der Ruf nach Erlangen. Da hatten Luise und Friedrich schon drei Kinder in die Welt gesetzt, alle geboren unterm Dach in der heutigen Rückertstraße. Dann lebte die Familie erstmal in Erlangen, im Sommer aber, wie Luise von ihrer Familie her gewohnt, draußen auf dem Gut der Fischers in Neuses. Das bezog Friedrich Rückert 1840 dann endgültig, blieb dort bis zu seinem Tod 1866. Luise starb bereits 1857.
Das Spannende des Rückert-Kapitels im Puppenmuseum ist nun nicht nur die Authentizität des Ortes. Die Kulturwissenschaftlerin Christine Spiller hat den reichen Sammlungsschatz der Lossnitzers an historischen "Spielzeug" genutzt, um ein Stück Hintergrundgeschichte anschaulich werden zu lassen, das uns bis heute wesentlich bestimmt: Die Entstehung der bürgerlichen Familie, die in jene Rückertsche Zeit fällt.
Die Kindheit wird entdeckt
Luise und Friedrich Rückert waren ihren zehn Kindern, von denen sieben überlebten, sehr zugetan, behandelten sie im Sinne des neuen pädagogischen Geistes. Rückert verarbeitete das gewandelte Denken in seinen Gedichten, ist somit also ein Botschafter der neuen Vorstellung von Kindheit. Wurden Kinder bis dahin vorrangig als ungenügende kleine Erwachsene behandelt, denen die Wildheit auszutreiben war, so setzte sich allmählich ein Bewusstsein vom eigenständigen Wert der Kindheit im Hinblick auf die generelle "Menschwerdung" durch.
Rückerts "Kindertodtenlieder", nicht nur in den Vertonungen von Mahler, berühren uns bis heute in ihrer tiefen Existenzialität. Im 19. Jahrhundert aber waren sie geradezu ein Revolutionsschrei für die Würde, den eigenständigen Wert der kleinen Wesen.Im Puppenmuseum wird gezeigt, wie die bürgerliche Familie an Selbstbewusstsein gewann: am Beispiel wertvoller, weil detailgetreuer Puppenstuben. Ein Kämmerchen in der Rückertstraße zeigt mit damaligen Puppenbabies und mit einer Wiege, wie das Kapitel Geburt und Säuglingsalter neu bewertet wurde. Einer der ersten Hochstühle verweist darauf, dass Kleinkinder jetzt sogar ins familiäre Zentrum, an den gemeinsamen Esstisch geholt wurden.
Weiter geht es mit der Erläuterung damaliger Rollenbilder in der Erziehung, abzulesen am Spielzeug für Jungen und Mädchen. Die kunstvollen Puppenstuben und -küchen dienten ja bekanntlich nicht wirklich dem Spiel, sondern der anschaulichen Einführung der Kleinen in ihre späteren Aufgaben. Die Schulbank im Kapitel Erziehung zeigt, wie das erwachende Bürgertum Bildung als zentrale Chance entdeckte.
Christine Spiller weist bei ihrer Führung immer wieder speziell auf Rückertsche Bezüge hin, zitiert, liest aus seinen "Fünf Märlein zum Einschläfern für mein Schwesterlein". Hinter kleinen Türchen warten (akustische) Überraschungen auf große wie kleine Besucher des Coburger Puppenmuseums. Für weniger mobile Interessenten hat Christine Spiller ihr Wissen zu einem Vortrag zusammengefasst. Sie kommt gerne auch in Seniorenheime oder zu Vereinen...
Schönre hab´ ich wol gefunden /
Aber keine konnt´ ich schauen /
Die mir so zu allen Stunden / Sah ins Auge mit Vertrauen / Sprechend: Zeige mir die Wunden, / Die das Schicksal dir gehauen! / Und es soll Dein Herz gesunden, / laß mich drauf als Balsam thaun!
Friedrich Rückert über Luise
Ausstellung "Liebesfrühling im Dachstübchen" - Friedrich Rückerts Zeit in Coburg 1820 - 1826. Das Thema ist als Führung im Museum wie auch als Vortrag außer Haus buchbar. Dauer etwa 60 Minuten; Eintritt für Gruppen ab zehn Personen 5 Euro, unter zehn Personen 4 Euro plus 25 Euro Gebühr. Teilnehmen können auf Grund der engen Räumlichkeiten maximal 20 Personen. Parallel zur geplanten Rückert-Ausstellung im Kunstverein finden ab Januar 2017 offene Führungen für Einzelbesucher ohne Voranmeldung statt.
Kinderfrau Emma Die neue Kostümführung mit der "Kinderfrau Emma" greift ebenfalls das Thema auf: Emma führt durch die Dauerausstellung und erzählt von Kindererziehung und Spielzeug im 19. Jahrhundert. Sie weiß einiges aus dem Leben Coburger Bildungsbürger. Die Familie Rückert ist ihr ebenso bekannt wie die Familie Stoeckenius, die als Beamte in Diensten des Herzogs stand. (Erwachsene 6,50 Euro, Kinder 3 Euro, jeweils um 14 Uhr am morgigen Sonntag, 7. August, am 4. September und 3. Oktober sowie nach Voranmeldung)
Kontakt Rückertstraße 2,
Öffnungszeiten täglich von 11 bis 16 Uhr. Telefon: 09561/ 891480.