Druckartikel: Sie wollen einfach nur leben

Sie wollen einfach nur leben


Autor: Dr. Carolin Herrmann

Coburg, Freitag, 10. Juni 2016

Das neue Klassenzimmerstück des Landestheaters erzählt hautnah und berührend die Geschichte eines Flüchtlingskindes.
Dede (Benjamin Hübner) hat eine Freundin gefunden, Melle (Sarah Zaharanski).  Foto: Andrea Kremper


Wir stecken tief in der Verunsicherung. Die vielen hilflosen Menschen. Die schrecklichen Nachrichten. Das Fremdartige. Gleichzeitig unser Bedürfnis, unser Recht, die eigene Lebenswelt bewahren zu wollen. Schon als Erwachsene finden wir angesichts der weltweiten Flüchtlingskatastrophen kaum eine befriedigende Position. Wie sollen da Kinder zurechtkommen?
Mit dem neuen Klassenzimmerstück bietet das Landestheater Coburg nicht nur hilfreiche Auseinandersetzung vor brisantem gesellschaftspolitischen Hintergrund. Es bietet erneut auch ein packendes Stück Theater, das Kinder und Jugendliche unmittelbar berührt. Gestern fand die Premiere von Michael Müllers einstündigem Stück "Über die Grenze ist es nur ein Schritt" in der Klasse 6c der Realschule CO 1 statt.
Die Geschichte einer Flüchtlingsfamilie aus Ghana spielt unmittelbar in der Klassenzimmersituation.

Die Coburger Mädchen und Jungen treffen auf das Schicksal von Dede, der seine kleine Schwester in der Schule sucht. Als die Polizei vor dem Haus auftaucht, wird klar, dass er mit seiner Mutter illegal in Deutschland lebt.
In der zupackenden und die unmittelbare Nähe zu den jungen Zuschauern auch in den harten Szenen nicht scheuenden Regie von Constanze Weidknecht tritt Benjamin Hübner als Dede den Kindern gegenüber. Zusammen mit Sarah Zaharanski erzählt und spielt er, wie seine Mutter aufbricht aus "Toxic City" in Ghana, wo deutscher Giftschrott zerlegt, ausgewertet, auf offenem Gelände verbrannt wird. Wie sie von Schleppern ausgebeutet und in der Sahara ausgeraubt wird, wie sie es mit der Hilfe von Osam nach Algerien schafft, zwei Kinder zur Welt bringt, vom "guten Onkel" nach Berlin geholt wird. (Allerdings ohne den Vater, der kann ja irgendwann das Boot übers Mittelmeer nehmen...), Nun schlägt sich die unvollständige Familie hier durch. In Armut und Angst.


Zurück nach Toxic-City?

Dede ist hier aufgewachsen, hat Melle als Freundin gewonnen. Er will, er kann nicht zurück nach Toxic-City, wo er in kürzester Zeit vergiftet und krank sein würde. Doch auf den Ausweise-Papieren steht der Satz: "Es kann Ihnen zugemutet werden, in ihr Heimatland zurückzukehren."
Michael Müller hat für seine dramatische, unter die Haut gehende, dabei gut analysierende und verdichtende Darstellung 2011 den Mülheimer Kinderstückpreis erhalten. In der Coburger Inszenierung agieren die Darsteller nah an der Aufnahmefähigkeit und -bereitschaft der Schüler.
Warum verlassen all diese Menschen ihre Heimat? Im anschließenden Gespräch mit Theaterpädagogin Luca Pauer melden sich in dieser Realschule eine ganze Reihe von Kindern zu Wort, deren Eltern ebenfalls ihr Geburtsland verlassen haben, Rumänien, Russland, Thailand.
Konfrontiert auch mit der Gewalt, der Not und Bedrohlichkeit, muss sich die Betroffenheit der Schüler immer wieder den Weg ins Gelächter suchen. Komik setzt der Autor geschickt ein, indem die Hauptfigur Dede wie alle hier spricht und sich bewegt, eben ein Junge wie jeder andere ist. Anders als den deutschen Kindern aber wird ihm Heimat verweigert. "Wir haben niemandem etwas getan. Wir wollen nur leben", sagt Dede zum Schluss. Das zumindest sind wir hier verpflichtet, uns klar zu machen.

Landestheater Coburg Michael Müller: Über die Grenze ist es nur ein Schritt. Klassenzimmerstück für Menschen ab 10 Jahren. Inszenierung Constanze Weidknecht, Ausstattung Susanne Wilczek, Dramaturgie Carola von Gradulewski. Darsteller: Sarah Zaharanski, Benjamin Hübner.

Kontakt Luca Pauer, Telefon 09561/89 89 97, Mail luca. pauer@landestheater.coburg.de
Der Autor Michael Müller wurde 1959 in Lübeck geboren, studierte Kunst, Politik und Theaterpädagogik. Seit 1991 arbeitete er an verschiedenen deutschen Theatern in der Öffentlichkeitsarbeit. Seit 2013 ist er Leiter der Theaterpädagogik und Autor am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. Für verschiedene Stücke wurde er bereits ausgezeichnet. "Über die Grenze ist es nur ein Schritt" wurde 2011 uraufgeführt.