Rabauken und Erfolgsgeschichten
Autor: Nelly Ritz
Coburg, Donnerstag, 06. Oktober 2016
Die "Gemeinwesenarbeit Coburg West" feiert 2016 ihr 20-jähriges Bestehen. Beteiligte von damals erinnern sich.
Wenn Günter Neidhardt, inzwischen Diakon in der Kirchengemeinde St. Johannis Rödental-Oeslau, den Coburger Stadtteil Demo beschreibt, wie er vor vielen Jahren aussah, kann man die brennenden Mülltonnen und aufmüpfigen, pöbelnden Jugendlichen nahezu vor sich sehen. Sogar Tiermisshandlungen am Teich sollen vorgefallen seien. Vom "sozialen Brennpunkt" war damals die Rede, eine Zeitung schreibt von einem "sozialen Notstandsgebiet". Spannungen zwischen Jugendlichen und Anwohnern standen auf der Tagesordnung. Viele russische Aussiedler wussten nicht wohin mit sich selbst und ihren Sorgen. Etwas musste getan werden.
"Da gab es gar keine Diskussion"
"Die Hütte" im Demo sollte die Lösung sein. Ein Treffpunkt für Jugendliche, den sie selbst organisieren und gestalten konnten. "Es war einen Versuch wert", kommentiert Günter Neidhardt die Idee.
Doch auch hier nahmen die Randale und Probleme kein Ende.
"Anwohner standen bei mir im Büro und haben mir die Situation und ihre großen Sorgen
geschildert. Wir mussten auf die aktuelle Situation und die Unruhen im Stadtteil reagieren, da gab es gar keine Diskussion", blickt Oberbürgermeister Norbert Tessmer (SPD) auf die Zeit zurück, in der er gerade seine Amtszeit als Dritter Bürgermeister und damit auch als Sozialreferent begann.
Die Stadt ergriff also die Initiative im "Problemviertel Demo". Mit der Hilfe der Evangelischen Jugend im Dekanat Coburg (Ejott) als Träger entstand im Gemeindezentrum Hörnleinsgrund im November 1996 das "Aussiedlerintegrationsprojekt Demo". Betrieben wurde das Zentrum damals von der evangelischen Kirchengemeinde Sankt Markus. "Gemeinsam überlegte man mit den Ämtern, Behörden und vor allem den Anwohnern in runden Tischen, was man tun könnte", erzählt Tessmer. Ihn habe das Thema damals sehr berührt.
Schnell war allerdings klar: Das Projekt betrifft nicht nur die im Demo lebenden Russland-Deutschen. "Es war notwendig, das Ganze auf Kinder, Jugendliche und Eltern, eben auf alle Anwohner dort, auszuweiten", sagt Günter Neidhardt, der damals noch als Geschäftsführer bei der Ejott tätig war. Das "Jugendintegrationsprojekt" entstand, aus dem sich schließlich die "Gemeinwesenarbeit Coburg West" entwickelte.
Erfolgsgeschichte im Demo
Regelmäßige Jugendtreffs gehörten genauso zum Angebot der Jugendsozialarbeit wie Sportveranstaltungen und Ausflüge. Kommunikation war die Devise, denn "wenn man Kontakt aufnimmt, kann man auch über die Probleme reden", so Neidhardt. Man sei kreativ, vorausschauend, ernsthaft und partnerschaftlich vorgegangen.
So seien Schritt für Schritt - auch mit kleinen Rückschlägen - Erfolge erzielt worden, meint Tessmer. Karolin Netschiporenko, die damals als "Streetworkerin" das Projekt in den ersten Monaten nachhaltig prägte, versichert: "Ich habe immer die Gelegenheiten genutzt, mit den Jugendlichen zu sprechen." Denn offensichtlich habe ihnen ein erwachsener Ansprechpartner und ein Raum für Kommunikation und Unternehmungen gefehlt.
So hat sie zusammen mit Uwe Morgenroth, dem damaligen Jugendreferenten der Ejott, ein Konzept verfasst, in dem die Angebote auf die Bedarfe der Jugendlichen abgestimmt wurden. Ein Ergebnis war die nächtliche Nutzung der Schulturnhallen für Fuß-, Hand- und Basketballspiele, die bald schon einen festen Stamm an Jugendlichen zu verzeichnen hatten, der sich aktiv mit einbringen wollte. "Das war eines meiner Highlights, auf die ich doch sehr stolz bin", erzählt die ehemalige Mitarbeiterin, die heute Geschäftsführerin des Vereins "Hilfe für das behinderte Kind" ist.
"Eine zweite Familie"
Irene Fix, die ab Anfang 2000 ihre gesamte Jugendzeit in der Gemeinwesenarbeit Coburg West verbrachte, erinnert sich: "Es war wie eine zweite Familie. Wir wurden sehr gut begleitet." Die Mitarbeiter versuchten, jedem zu helfen, auch den ärmeren Kindern. Außerdem habe es tolle Ausflüge gegeben, zum Beispiel nach Holland oder in den Europa-Park."Das Projekt hat von Anfang an sehr gut funktioniert", bestätigt Günter Neidhardt. "Es ist ein tolles Beispiel dafür, wie gut Stadt und Kirche kooperieren können." Und auch Karolin Netschiporenko kann sich noch entsinnen, wie schnell die Randale ein Ende genommen haben.
Jugendarbeit 20 Jahre später
"Jeder hatte seine Freiheiten im Gemeindezentrum. Ich habe zum Beispiel oft in der Küche geholfen", sagt Eugenia Kernitzki, die ab einem Alter von elf Jahren ein Mal pro Woche zum Jugendtreff kam. Später betreute sie selbst die Kleinen mit, bis sie dann wegzog. Heute sind die Jugendlichen von damals junge Erwachsene, die vielleicht selbst ihre Kinder zum "Teenytreff" oder dem "Spiel- und Bastelnachmittag" schicken. "Ich freue mich sehr, wenn ich sehe, wie die jungen Leute von damals heute ihren Lebensweg gefunden haben", meint Karolin Netschiporenko. Inzwischen sind die Erinnerungen an das Problemviertel Demo verblasst. "So wie der Stadtteil heute dasteht, zeigt mir, dass wir damals genau richtig gehandelt haben. Das macht mich stolz und dankbar!", erklärt Bürgermeister Tessmer.
Von Intervention zur Prävention
Was bleibt - 20 Jahre später - ist das Gemeindezentrum der inzwischen eigenständigen Kirchengemeinde Katharina von Bora. "Das Demo und das Aussiedlerintegrationsprojekt waren die Keimzelle für viele weitere Gemeinwesenprojekte, wie beispielsweise auch im Gemeindezentrum ,elia&co‘ am Max-Böhme-Ring", erinnert sich Netschiporenko. Solche Projekte seien es wert, fortgeführt zu werden. Denn die Bedarfe der Jugendlichen heute seien dieselben wie damals, betont sie. "Entscheidend ist, dass etwas für und mit Heranwachsenden gemacht wird", wie auch Reinhold Ehl, Leiter des Amtes für Jugend und Familie feststellt. Was hat sich also geändert? Ehl kann belegen: "Vor Ort gibt es kaum mehr Gewaltdelikte, die von Jugendlichen begangen werden. Es war und ist eine Erfolgsstory."
Auch in der Arbeitsweise gibt es Unterschiede: "Damals war es Intervention, heute ist es Prävention", erklärt Katja Schlusemann, Sozialpädagogin im Gemeindezentrum. Doch die Jugendarbeit und das Miteinander, das sei geblieben. Auch heute finden noch viele Jugendliche eine zweite Heimat im Gemeindezentrum am Hörnleinsgrund.
Information: Wann und Wo?
Das Jubiläum wird am Freitag, 7. Oktober 2016, um 16 Uhr mit einem Festgottesdienst und einer anschließenden Feierstunde im Gemeindesaal Katharina von Bora, Heimatring 52, in Coburg gefeiert.
Kommentar: Was wollen wir heute?
Wie schön es doch ist, in diesen Tagen voller schlechter Nachrichten einmal eine solche Geschichte zu hören. Aus dem "sozialen Brennpunkt" wird eine erfolgreiche Anlaufstelle für Jugendliche und Kinder. Nein, man muss es genauer formulieren - so, wie es war: Aus dem Aussiedlerintegrationsprojekt wird Gemeinwesenarbeit. Gerade in der heutigen Zeit gewinnt diese Erfolgsgeschichte eine ganz neue Bedeutung. Weil es beweist, dass man aus Problemen auch gewinnen kann. Weil es zeigt, dass es egal ist, wo die Menschen herkommen, wenn aus Konflikten plötzlich Freundschaften entstehen. "Die Alternative wäre die Entzündung von sozialem Brennstoff ungewohnten Ausmaßes. Mangelnde Integration von Ausländern (...). Das würde wohl niemand wollen", sagte Norbert Tessmer seinerzeit, um die teuere Erweiterung des Projekts zu rechtfertigen.
Die Frage, die wir uns aktuell stellen müssen, lautet: Was wollen wir heute für unsere Zukunft? Wollen wir in 20 Jahren stolz auf "gelebte Integration" und effektive Problembewältigung zurückblicken oder lieber auf Ausländerfeindlichkeit und (Problem-) Abschiebung? Die Hoffnung auf Ersteres bleibt, die Realität sieht leider manchmal erschreckend anders aus.