Ortstermin in Beiersdorf - nächtliche Sitzung im Mordhaus
Autor: Oliver Schmidt
Coburg, Sonntag, 14. Dezember 2014
Beim nächtlichen Ortstermin in Beiersdorf geht es sehr emotional und bisweilen auch ein bisschen gruselig zu. Im Keller des Hauses werden zwei Karate-Urkunden beschlagnahmt.
Auf dem Wohnzimmertisch liegt neben der Lesebrille von Wolfgang R. auch noch die Fernsehzeitschrift - aufgeschlagen ist der 11. Dezember 2013. In den allerersten Stunden des 12. Dezember sollte der 66-Jährige sterben. Brutal sterben. Noch heute zeugen davon die vielen Blutspuren auf dem Teppich. Dieser Anblick ist nichts für schwache Nerven. Maria S., die Freundin von Wolfgang R., hat aber sogar schon weit vorher kapituliert: Noch am Gartenzaun erleidet sie einen Weinkrampf. "Sie hyperventiliert", lautet später die Mitteilung an Richter Gerhard Amend. Der verzichtet darauf, sie zum Betreten des Hauses zu zwingen. Fürs Protokoll wird allerdings festgehalten: Die angeklagte Maria S. weigert sich, das Haus zu betreten.
Es ist 23.15 Uhr, als am späten Freitagabend im Eichenweg in Beiersdorf die ersten Polizeibusse eintreffen: Die ersten der insgesamt vier Angeklagten werden gebracht.
Gerhard Amend ist dieser nächtliche Termin sehr wichtig: Er will sich möglichst genau ein Bild von den Rahmen- und vor allem Lichtbedingungen machen, die vorherrschten, als Wolfgang R. in der Nacht zum 12. Dezember 2013 starb.
Gedränge im Wohnzimmer
Als sich die etwa 30 anwesenden Personen in das Wohnzimmer drängen, herrscht eine seltsame Ruhe. Das oft einzige Nebengeräusch ist das Rasseln der Fußfesseln der drei männlichen Angeklagten. Der 23-jährige Paul K. und der 45-jährige Peter G. wirken fast ein wenig teilnahmslos. Die beiden hatten Wolfgang R. mit Schlägen und Tritten so schwer verletzt, das er schließlich an seinem eigenen Blut erstickte.
Helmut S., der Ex-Mann von Maria S., war eigentlich nur eine Nebenrolle in dem Prozess zugedacht. Doch seit dem letzten Verhandlungstag steht er plötzlich im Fokus der Verhandlung: Paul K. und Peter G. haben ihn schwer belastet. Denn er soll es gewesen sein, der Wolfgang R. eine "Abreibung" verpassen lassen wollte und deshalb die beiden Rocker anheuerte. Auch Helmut S. verhält sich beim Ortstermin sehr zurückhaltend. Er ist allerdings auch sehr krank.
Jeder Raum im Erdgeschoss wird inspiziert. Gerhard Amend schreitet die Distanz von der Wohnzimmertür, wo es die ersten Schläge gegen Wolfgang R. gab, bis zum Fernsehsessel, vor dem Wolfgang R. starb, mit großen Schritten ab: "Das sind ungefähr neun Meter!" Dann wird das Licht ausgeschaltet, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie die Lichtverhältnisse in der Tatnacht waren. Wer konnte wo und wie etwas sehen und erkennen?
Weihnachtsbaum und Weihnachtsmann, die bis heute auf der Terrasse direkt vor dem großen Wohnzimmerfenster stehen, waren zur Tatzeit bereits ausgeschaltet. Der einzige Lichtschein kam aus dem Schlafzimmer von der Nachttischlampe.
Beethoven-Büste im Partyraum
Es geht in den Keller samt Partyraum. An der Wand hängt eine Geige. Und ein Setzkasten, in dem ein Schlumpf und viele andere Figürchen nebeneinander gereiht sind. In einem weiteren Regal, gleich über einer Beethoven-Büste, sind 15 schicke Taschenuhren platziert. Interessant auch mehrere Urkunden: Die Stadt Coburg dankt Wolfgang R. für dessen treue Musiker-Dienste am Landestheater. Außerdem: Wolfgang R. hat zwei Karate-Prüfungen mit Erfolg bestanden. Das findet Staatsanwalt Matthias Huber spannend - er lässt die Karate-Urkunden beschlagnahmen.
Im Heizungsraum gilt die Aufmerksamkeit einem kleinen, fast unscheinbaren Tresor. Ein Polizist berichtet, dass der Tresor mit einem Tuch abgedeckt war, als vor einem Jahr erstmals Ermittler ins Haus kamen. Dieses Detail könnte noch wichtig werden: Diesen Tresor kann niemand zufällig entdecken - wer da etwas entnimmt, muss sich auskennen oder entsprechende Hinweise bekommen haben.
Zurück im Wohnzimmer kommt es zur einzigen Äußerung eines der Angeklagten beim Ortstermin. Paul K. erzählt mit unaufgeregter Stimme, dass er Wolfgang R. an der Wohnzimmertür den ersten Schlag verpasst hat. "Und dann ist er, glaube ich, zu Boden gegangen." Ein weiteres Mal lässt Gerhard Amend alle Lichter löschen.
Nur am Klemmbrett des Justiz-Protokollanten scheint eine kleine Lampe. Doch auch die muss dann mal ausgeschaltet werden - es soll alles so authentisch wie nur möglich sein. Amend diktiert dem Protokollanten weitere Beobachtungen - woraufhin dieser kurz in einen Konflikt gerät: Schreiben kann er nur, wenn die Lampe an ist - gut beobachten und kombinieren kann der Richter aber nur, wenn die Lampe aus ist.
Passfoto an der Pinnwand
Wenige Minuten später ist die Sitzung beendet. Nach und nach verlassen alle das Haus, das seit einem Jahr leer steht. Am Eingang zum Wohnzimmer befindet sich eine Pinnwand - außer Zetteln mit Terminen und Telefonnummern hängt auch ein Passfoto von Wolfgang R. daran. Der Windfang ist mit einer Fahne von Brasilien dekoriert, dem Heimatland von Maria S. Und am Spiegel an der Garderobe steckt eine Nikolausmütze.
Um 1.11 Uhr stehen alle Teilnehmer dieses ungewöhnlichen Ortstermins wieder draußen auf der Straße. Es ist nicht kalt, aber ruhig. Zu hören ist eigentlich nur das Rasseln von Fußfesseln.