Druckartikel: Nicht alle Flüchtlinge sind willkommen...

Nicht alle Flüchtlinge sind willkommen...


Autor: Fajsz Deáky

Coburg, Mittwoch, 09. März 2022

Menschen, die aus der Ukraine flüchten, erleben riesige Solidarität. Andere, zum Beispiel an der polnischen Grenze, überlassen wir ihrem Schicksal. Wie kann das sein? Eine Coburger Wissenschaftlerin gibt Antworten.
5. März 2022. Ukrainische Flüchtlinge überqueren Polens offene Grenze.


Coburg - Eine riesige Welle der Hilfsbereitschaft hat das Land erfasst. Auch Coburg bereitet sich auf die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge vor (s.  rechts), Menschen stellen Wohnraum zur Verfügung. Alle wollen helfen. Gleichzeitig harren seit dem vergangenen Sommer tausende Flüchtlinge an der polnischen EU-Außengrenze aus, werden zurückgeschickt in Länder wie den Irak. Und bereits mit Einsetzen des Herbstes sind dort immer wieder Menschen an Unterkühlung und Erschöpfung gestorben. Wie viele? Zahlen gibt es nicht. Aber eine Welle der Solidarität, wie jetzt bei ukrainischen Flüchtlingen, blieb aus. Sind manche Menschen bei uns willkommen und andere nicht? Wir haben die Soziologin Prof. Dr. Andrea Schmelz von der Hochschule Coburg gefragt.

Alle wollen ukrainischen Flüchtlingen helfen. Wieso haben Gesellschaft und Politik nicht so auf die Flüchtlinge an der polnisch-belarussischen Grenze reagiert?

Prof. Andrea Schmelz: Dieser skandalöse Umstand ist Ausdruck einer EU-Asyl- und Migrationspolitik, die seit der Flüchtlingsschutzkrise des Jahres 2015/16 rigorose Abschottung gegenüber Schutzsuchenden an den Außengrenzen verfolgt. Hierbei werden die Menschen in der sogenannten roten Zone an der belarussischen Grenze vergessen. Wie die Hilfsorganisation Medico International berichtet, haben humanitäre Unterstützer:innen so gut wie keinen Zugang zu diesem Gebiet. Die Grenzöffnung der osteuropäischen Nachbarländer der Ukraine und die Solidarität mit schutzsuchenden Kriegsflüchtlingen von dort aber sind natürlich überwältigend.

Das Argument "Was näher an unserer Welt passiert, berührt uns mehr" kann ja hier nicht gelten - die polnische EU-Außengrenze ist uns nahe, genauso wie das Mittelmeer, in dem immer noch Menschen jämmerlich ertrinken. Wo liegt der Unterschied in der Wahrnehmung?

Ukrainer:innen als Nachbar:innen werden willkommen geheißen als Teil der "europäischen Familie" - wie dies etwa Ursula von der Leyen, Präsidentin der EU-Kommission ausdrückt. Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen berichten gleichzeitig, dass etwa afrikanische Studierende aus der Ukraine an der polnischen Grenze aufgrund ihrer Hautfarbe zurückgewiesen werden. Dies stellt eine unakzeptable Ungleichbehandlung dar. Dass die EU jetzt solidarisch mit der ukrainischen Bevölkerung handelt, ist sehr wichtig und gut. Zugleich dürfen wir nicht länger verdrängen, wenn dieselbe EU das Leid anderer, überwiegend "nicht weißer" sowie "nicht christlicher" Menschen an den Außengrenzen hinnimmt. Eine Auseinandersetzung mit der eigenen Gewalt durch die EU findet kaum statt. Dies hängt u.a. mit dem Selbstbild Europas zusammen, das sich als Hüterin der Menschenrechte und Demokratie versteht. Hier wird kollektive Verdrängung wirksam.

Kann es sein, dass die Menschen in der Ukraine vor einem klar definierten "Bösewicht" flüchten, dass das mehr Mitgefühl auslöst? Aber: Assad ist doch auch so ein "Bösewicht".

Die Kaltblütigkeit, mit der Putin die Bevölkerung der Ukraine mit kriegerischer Gewalt überzieht, spielt für das Mitgefühl eine wichtige Rolle. Und ja: "Gut" und "Böse" scheinen im Falle der Ukraine eindeutig voneinander unterscheidbar. Putin ist als Aggressor medial sichtbar. Seine Kriegshandlungen sind in den Medien allgegenwärtig. Hingegen erscheinen Assads Kriegsverbrechen von der europäischen Medienöffentlichkeit weitgehend vergessen. Doch sollen wir uns daran erinnern, dass Putins Krieg in der Ukraine bereits 2014 begonnen hat. Auch hier haben westlichen Länder eher weggeschaut.

Flüchtlingen aus Syrien oder aus Afghanistan wurde, auch in unserer Gesellschaft, vorgeworfen, sie hätten ihre Familien im Stich gelassen, statt in der Heimat zu kämpfen. Diese Einstellung kam bisher ukrainischen Männern gegenüber nicht auf. Woher diese Hybris?

Es werden zugeschriebene Geschlechterstereotype aufgerufen. Der "tapfere" Ukrainer verteidigt sein Land, während der "feige" Syrer oder Afghane, Frau, Kind und Land zurücklässt, anstatt bewaffneten Widerstand zu leisten. Es wird wenig Verständnis dafür gezeigt, dass in Syrien oder Afghanistan seit Jahren bzw. Jahrzehnten Krieg herrscht und Menschen gegen einen Diktator wie etwa Assad zu kämpfen nicht mehr in der Lage sind. Hingegen wird nicht wahrgenommen, dass ukrainische Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren Ausreiseverbot haben, also nicht unbedingt freiwillig bleiben.

Ist uns die Ukraine vielleicht näher, weil es Menschen und Gesichter gibt, die uns als Personen des öffentlichen Lebens vertraut sind? Die Klitschkos, oder Fußballspieler wie Jarmolenko?

Eine solche Identifikation spielt bewusst oder unbewusst eine Rolle, ohne dass hier von einer einheitlichen Wahrnehmung aller Menschen gesprochen werden kann. Von Bedeutung für die Solidarisierung sind darüber hinaus historische, politische und wirtschaftliche Beziehungen der Menschen aus europäischen Nachbarstaaten. Stichworte sind hier: transnationale Familien, Arbeitskräftewanderung aus der Ukraine und eine große eingewanderte Gruppe der Ukrainer:innen in vielen europäischen Ländern, insbesondere auch in Polen.

Kann man unserer Gesellschaft - und insbesondere unserer Politik - vorwerfen, Menschlichkeit mit zweierlei Maß zu messen? Keine der großen Parteien, die im Bundestagswahlkampf 2021 nicht die Parole "2015 darf sich nicht wiederholen" im Wahlkampf-Portfolio gehabt hätte.

Zunächst möchte ich daran erinnern, dass Zivilgesellschaft und Bevölkerung während der Flüchtlingschutzkrise von 2015 sich in einem bis dahin nicht gekannten Maße für Flüchtlinge engagiert haben, insbesondere für Kriegsflüchtlinge aus Syrien. Doch entschied sich die damalige Bundesregierung nach kurzer Zeit für eine Politik der Abschreckung. Dies geschah in dem Irrglauben, die Rechtspopulisten könnten geschwächt werden, wenn man sich ihrer Parolen bedient. Im Wahlkampf geht es um die Gewinnung von Stimmen, eine weltoffene Flüchtlingspolitik aber kann Stimmen kosten. Dass Menschlichkeit mit zweierlei Maß gemessen wird, darauf hat die Migrationsforscherin Sabine Hess bereits kurz nach Kriegsausbruch hingewiesen. Während für ukrainische Kriegsflüchtlinge die EU-Massenzustromrichtlinie binnen 10 Tagen in Kraft gesetzt wurde, werden Geflüchtete u.a. an der polnisch-belarussischen Grenze in der Kälte alleingelassen. Dies geschieht, obwohl viele von Ihnen auch klassische Kriegsflüchtlinge waren, vor allem aus Syrien.

Ist die Unterscheidung, die wir offenbar machen zwischen "weißen" Flüchtlingen, die uns nahestehen und "dunkelhäutigen", die uns fremder sind (z.B. aus der arabischen Welt) eine Art von gesamtgesellschaftlichem Rassismus?

Wenn wir hier von gesamtgesellschaftlichen Rassismus sprechen, ruft das oft Abwehrreaktionen hervor. Dies hängt u.a. damit zusammen, dass die Rassismus-Definition der UN-Antirassismus-Konvention in der deutschen Gesellschaft und Politik kaum bekannt ist - und dies obwohl sie bereits im Jahr 1955 als weltweit verbindlich im Völkerrecht formuliert wurde. In Deutschland wird Rassismus oft mit rechtsextremistischen Äußerungen gleichgesetzt und als absichtsvolle Beleidigung eines Menschen gegenüber einem anderen Menschen verstanden. Die UN-Rassismus-Definition hingegen nimmt nicht nur individuelles Handeln, sondern hat die Strukturen und Institutionen der gesamten Gesellschaft in den Blick. Die UN bescheinigt Deutschland hier regelmäßig großen Handlungsbedarf in der Bekämpfung von Rassismus. Dies trifft insbesondere auf rassistischer Diskriminierung im Umgang mit Flüchtlingen zu. Eine besondere Verantwortung tragen die Medien, um keine rassistische Stereotype wiedergeben. So berichteten Nachrichtenagenturen, dass die Ukraine "kein Dritte-Welt-Land" wie "Irak oder Afghanistan" sei, sondern "europäisch" und "zivilisiert". Wenn ukrainische Flüchtende von "unzivilisierten" Schutzsuchenden aus nicht-europäischen Konfliktregionen unterschieden werden, begegnen uns rassistische Zuschreibungen.

Ist es vielleicht eine Art von Xenophobie, die in der Religion Geflüchteter aus muslimischen Ländern begründet ist?

Ja, eine teilweise ablehnende Haltung gegenüber dem Islam und muslimischer Menschen oder solchen, die dafür gehalten werden, ist von Bedeutung. Erinnert sei daran, wie beispielsweise die Ereignisse in der Silvesternacht 2016 und "islamistisch-terroristische" Attentate die Ablehnung insbesondere muslimisch wahrgenommener Männer hervorgerufen hat. In Forschung und Bildung wird hier auch von antimuslimischem Rassismus gesprochen. Dieser meint die pauschale Abwertung und Diskriminierung von Menschen, die als Muslim:innen wahrgenommen werden. Es ist dabei noch nicht einmal von Bedeutung, ob sie wirklich muslimisch sind oder gläubig sind.

Die Fragen stellte Fajsz Deáky