Druckartikel: "Missbrauch ist bei den neuen Handball-Regeln auch denkbar"

"Missbrauch ist bei den neuen Handball-Regeln auch denkbar"


Autor: Ralph Bilek

Coburg, Dienstag, 16. August 2016

Jan Gorr, Trainer des HSC 2000 Coburg, nimmt die Regeländerungen unter die Lupe. Mit Kritik spart er dabei nicht.
Strittige Entscheidungen gehören zum Handball dazu. Genauso die darauf folgenden Emotionen bei Zuschauern und Trainern. HSC-Coach Jan Gorr nahm sich im Tageblatt-Interview die neuen Regeln zur Brust.


Im Finale des Saisonvorbereitungs-Turniers im Final-Four-Modus bezwang Zweitbundesligist ThSV Eisenach Erstbundesliga-Aufsteiger HSC Coburg, wie gemeldet, überraschend mit 28:23 (13:11).
Eine kompakte Abwehr im Zusammenwirken mit Torhüter Jan-Steffen Redwitz (parierte 18 Bälle) und dem im Angriff explodierenden Ex-Coburger Matthias Gerlich (9 Treffer) waren die entscheidenden Vorteile


Nicht die erforderlichen Intensität

"Wir ließen uns von der aggressiven Eisenacher Abwehr geradezu unterbuttern. Wir fanden hingegen nicht zur erforderlichen Intensität. Ich habe gesehen, wer in einer Partie mit viel physischen Komponenten Akzente setzen kann. Der ThSV Eisenach war die bessere Mannschaft und hat völlig verdient gewonnen", bilanzierte Jan Gorr, aufgeschlossen das Spiel.

Der Coach des HSC Coburg beorderte, wie schon beim Test in eigener Halle drei Tage zuvor gegen den THW Kiel (24:27), den ehemaligen Eisenacher Mittelmann Till Riehn auf die Linksaußen-Position:


Riehn keine Verlegenheitslösung

"Keine Verlegenheitslösung. Till Riehn ist ein vielseitiger Spieler, der unsere Spielstrategien bestens umsetzen kann", argumentierte Gorr, für den das Erreichen des Finales gegen den ThSV Eisenach im Vordergrund stand. Das nahm dann allerdings einen unerwarteten Verlauf.
Bevor es morgen Abend zu einem letzten Testspiel - allerdings unter Ausschluss der Öffentlichkeit gegen Dinamo Bukarest kommt - stehen noch einige Trainingseinheiten auf dem Programm. Am Wochenende haben die HSC-Spieler dann frei, ehe die "heiße" Phase auf den Saisonstart beginnt.


Zahlreiche Regeländerungen

Dann greifen natürlich auch die bereits in den letzten Spielen angewandten Regeländerungen, die derzeit auch erstmals bei den Olympischen Spielen zur Anwendung kommen. Unser handball-Experte Ralph Bilek hat Jan Gorr ("Für unsere Olympia-Mannschaft ist jetzt alles möglich") zu den umfangreichen Veränderungen befragt. ct

Jan, wie ist deine Meinung zum siebten Feldspieler anstatt des Torwarts?
Das ist sicher die einschneidendste Veränderung. Dadurch, dass man den zusätzlichen Feldspieler jetzt nicht mehr gesondert kennzeichnen muss, hat man natürlich die Möglichkeit, den banknächsten Spieler auszuwechseln und den richtigen Torwart wieder aufs Feld zu schicken. Von daher vereinfacht das so ein bisschen den Ablauf.
Es wird so sein, dass die sieben Feldspieler deutlich abschlussorientierter agieren im Angriff. Bisher ist der mit dem Leibchen oft so ein bisschen pseudomäßig als Passstation gestanden und hat sich schon wieder aufs Rücklaufen vorbereitet. Das ist sicher ein positiver Aspekt. Im Zurücklaufen bedeutet das, wenn man den Ball verliert, es darf keiner der nicht markierten Spieler ins Tor laufen.
Das heißt, es wird zu kuriosen Situationen kommen. Die Frage, die ich mir stelle ist, ob es wirklich gewollt und nötig ist, unseren Sport unter Umständen so nachhaltig zu verändern, dass er aus dem Gleichzahlspiel zu einem Überzahl-/Unterzahlspiel verkommt, denn das könnte eine negative Entwicklung bei der ganzen Sache sein. Dann wäre Handball schon revolutioniert worden und da muss man die grundsätzliche Frage stellen, ob man das wirklich möchte.

Habt ihr das in der Vorbereitung schon ausprobiert?
Ja, es wäre fahrlässig, wenn wir es nicht machen würden. Andererseits habe ich eine klare Meinung. Wir haben viel Neues, auf das wir uns einstellen müssen und wenn unsere Basis nicht funktioniert und unser Fundament nicht stimmt, dann wird uns auch Sieben gegen Sechs und Sechs gegen Sieben nicht retten.
Von daher haben wir viel Wert darauf gelegt, erstmal unser Fundament stabil zu bekommen und dieses Überzahlspiel on top zu sehen. Vor allem habe ich mir Gedanken gemacht, wie kann man das verteidigen. Denn das ist die Konsequenz daraus, wenn die Regel da ist, dass die Gegner das nutzen können. Da braucht man einfach eine vielleicht ein bisschen innovative Abwehrstrategie. Denn wenn man sich nur hinten reinstellt, ist es eine Frage der Zeit, wann die Überzahl da ist. Von daher wollen wir sehen, dass wir da eben sehr aktiv verteidigen und dem Gegner vielleicht diese Überzahl so ein bisschen wegnehmen können.

Der verletzte Spieler, wenn er auf dem Spielfeld behandelt wird, muss künftig drei Angriffe pausieren.
Der Aufhänger ist, dass möglicherweise Schauspielaktionen oder bewusstes Zeitschinden durch konstruierte Verletzungspausen minimiert wird. Diese Situation wird man dadurch sicher in den Griff bekommen.
Aber man schafft natürlich auch wieder ein Feld an Möglichkeiten, wo einfach blöde Konstellationen entstehen. Zum Beispiel wenn ein Abwehrspieler sich bei einer harten Sperraktion vom Kreisläufer verletzt, die Schiedsrichter als normales oder unglückliches Vergehen bewerten. Dann kann es sein, dass einer der Abwehrspieler drei Angriffe draußen sein muss. Und das wäre natürlich schon etwas unglücklich.
Grundsätzlich wird der Ablauf so sein, dass die Schiedsrichter den Spieler erstmal befragen, ob er eine Behandlung braucht. Wenn das der Fall ist, würde diese Regelung eintreten, dass er drei Angriffe pausieren muss. Außer die Schiedsrichter sprechen gegen den foulenden Spieler eine progressive Strafe aus. So sind wichtige Situationen natürlich schon mal weggenommen. Wenn ein böses Foul passiert und das wird mit Gelb, zwei Minuten oder Rot bestraft, dann tritt diese Sperre nicht ein. Von daher wird es sich auf wenige Fälle beschränken.

Das Zeitspiel wird ganz konkret festgelegt - die Schiedsrichter müssen jetzt bei angezeigtem passiven Spiel nach dem sechsten Pass abpfeifen. Was hältst du davon?
Das ist für alle Beteiligten sicher eine Umstellung und keine einfache Situation, weder für Spieler und Trainer, noch für die Schiedsrichter, die neben den normalen Fouls und Vergehen, die sie beobachten müssen, jetzt auch noch die Pässe zählen müssen. Grundsätzlich war die Idee natürlich, dass man diesen schwammigen Bereich Zeitspiel ein bisschen klarer fasst.
Wir werden sehen. Die Erfahrung aus den letzten Jahren zeigt, dass nach angezeigtem Zeitspiel eh in den meisten Fällen weniger als sechs Pässe gespielt werden und dann der Abschluss kommt. Von daher wird sich da nicht so viel ändern.
Aber ein großes Problem bleibt natürlich: es ist die Frage, wann zeigt der Schiedsrichter das Zeitspiel an? Diese Entscheidung ist weiterhin alleine in der Hand der Schiedsrichter und somit vermutlich nach wie vor sehr unterschiedlich. Wir selbst werden jetzt keine Spielkonzepte nach vier oder drei noch möglichen Pässen ausrichten.

Die besondere Regelung zu den letzten 30 Sekunden, die jetzt in allen Ligen gilt, wie siehst du das?
Das ist ein schwieriger Bereich. Bisher war es ja so, dass man in der letzten Spielminute oder in den letzten 30 Sekunden bei durch Unsportlichkeit vereitelten Chancen in die Röhre geschaut hat. Es wurde zwar der Spieler, der das gemacht hat, bestraft und vielleicht fürs nächste Spiel gesperrt. Aber da hatte die direkt in diesem Spiel betroffene Mannschaft nichts davon, die vielleicht eine große Torchance zum Ausgleich hatte.
Mit der Situation, dass man hier mit einem Siebenmeter in den letzten 30 Sekunden quasi diese vereitelte Torchance wiederherstellt, das finde ich unterm Strich schon deutlich fairer, weil nicht die nächste Mannschaft profitiert.
Also ein guter Ansatz, mittlerweile aber auch hochkomplex und die letzten 30 Sekunden sind immer eine Stresssituation. Missbrauch ist allerdings auch denkbar: Hier könnten mit einem Tor zurückliegende Teams die Regel mit dem Siebenmeter-Strafwurf bewusst nutzen, um nochmal in Ballbesitz zu kommen. Klar ist der Siebenmeter eine große Torgelegenheit aber andererseits nimmt man damit der führenden Mannschaft die Möglichkeit, die Uhr noch ein wenig mehr runterzuspielen. Interessant wäre in so einem Fall eine Wahlmöglichkeit, ob das Spiel mit Strafwurf oder Freiwurf fortgesetzt wird.

Und deine Meinung zur blauen Karte?
Das ist eine bürokratische Klarstellung. Eigentlich ist die blaue Karte keine große Regeländerung. Das ist mehr eine Information, die an die Zuschauer einfach deutlicher weitergegeben wird. Es gibt zwei Arten der roten Karte. Es gibt die Match-Strafe, dass der Spieler an diesem Spiel nicht mehr teilnehmen darf. Und es gibt eine rote Karte mit Bericht. Dann folgt eine weitere Spielsperre, zwei oder drei Spiele, je nach Härte des Vergehens. Und wenn eine rote Karte gegeben wird, die zu einer weiteren Spielsperre führt, zeigen die Schiedsrichter künftig noch zusätzlich diese blaue Karte und jeder in der Halle weiß, dass es eben nicht nur eine Matchstrafe, sondern eine härtere Bestrafung ist. Dies führt zu mehr Transparenz.

Die Fragen stellte
Ralph Bilek