Licht bringen in ein dunkles Coburger Kapitel
Autor: Simone Bastian
Coburg, Freitag, 29. Januar 2016
Die Stadt will ihre Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wissenschaftlich aufarbeiten lassen. Eine mit renommierten Historikern besetzte Kommission hat nun festgelegt, wie das gehen soll.
Historiker denken in großen Zeiträumen. Von Oktober bis Januar hat es gedauert, eine Sitzung der Kommission einzuberufen, die sich mit Coburgs Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts befasst. "Für uns ist das kurz", sagt Professor Gert Melville, Sprecher der Kommission und Historiker mit Schwerpunkt Mittelalter. Er selbst sei ja schließlich schon für die nächsten eineinhalb Jahre verplant...
Am Freitag trat die Kommission also erstmals zusammen, um festzulegen, wie die Coburger Geschichte zwischen etwa 1905 (dem Regierungsantritt von Herzog Carl-Eduard von Sachsen-Coburg und Gotha) und 1945 beziehungsweise 1950 denn zusammenzufassen sei.
1945 endete der Zweite Weltkrieg und brach das Nazi-Regime zusammen, 1949 wurden die beiden deutschen Staaten gegründet, der eine westlich orientiert, der andere im sowjetischen Machtbereich.
Von 1933 bis 1945 waren die Nationalsozialisten in Deutschland am Ruder - "ein gesamtdeutsch dunkles Kapitel", wie Oberbürgermeister Norbert Tessmer (SPD) sagte. "In Coburg kommt erschwerend dazu, dass die Stadt zur Unzeit voraus gewesen ist." In Coburg hatten die Nazis schon 1930 die Mehrheit im Stadtrat und stellten den Oberbürgermeister. Deswegen, so Tessmer, "stehen wir in einer besonderen Verpflichtung".
Mehrere Bücher und Aufsätze beschäftigen sich bereits mit verschiedenen Aspekten diesen Teils der Coburger Geschichte, doch eine wissenschaftliche Gesamtaufarbeitung fehlt. Dass der Stadtrat nun eine Kommission einsetzte, die diese Aufarbeitung vorbereitet und begleitet und außerdem Geld bereitstellte, hängt mit den Diskussionen über die Max-Brose-Straße im vorigen Jahr zusammen. Denn Max Brose, Gründer des gleichnamigen Unternehmens, gehörte ab 1933 der nationalsozialistischen Partei an und beschäftigte Zwangsarbeiter.
Der Stadtrat hatte in seiner Sitzung im März 2015 festgestellt, dass Brose als Unternehmer nichts zur Last gelegt werden könne. Im Mai erfolgte die Umbenennung der Von-Schultes- in Max-Brose-Straße. In der gleichen Sitzung beschloss der Stadtrat, die Geschichte Coburgs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wissenschaftlich aufarbeiten zu lassen. Im Oktober schließlich setzte der Stadtrat eine mit renommierten Historikern besetzte Kommission ein, die festlegen sollte, wie diese geschichtliche Aufarbeitung zu erfolgen hat.
Das hat die Kommission nun am Freitag getan. Die Untersuchung solle nachvollziehbare Ergebnisse bringen und gleichzeitig gut lesbar sein, formulierte Gert Melville die zentralen Ansprüche. "Nachvollziehbare Ergebnisse" heißt: Quellen müssen belegt und für jedermann auffindbar sein; die wichtigsten Quellen sind in einer Dokumentation zusammenzufassen, die nicht als eigenes Buch erscheinen muss, sondern im Internet veröffentlicht werden kann. Das Buch über die Coburger Geschichte zwischen 1905 und 1945 (1950) selbst soll "Klartext liefern über das, was damals geschehen ist", sagte Melville.
Drei Hauptabschnitte
Die Kommission wolle keine Chronologie, sondern eine "entwicklungsgeschichtliche
Darstellung", betonte der Historiker. Das erste Teil umfasst die Jahre 1905 bis 1919, die Entwicklung vom Herzogtum zum Freistaat. Der zweite Abschnitt beleuchtet die Jahre 1919 bis 1933 - "eine spannende Zeit, weil alles offen war", wie Melville erläuterte: "Warum wurde Coburg in dieser Zeit Avantgarde im Nationalsozialismus?" Der dritte Abschnitt wird nach den Vorstellungen der Kommission die Jahre 1933 bis 1945 oder 1950 enthalten. Hier soll gezeigt werden, welche Veränderungen der Nationalsozialismus brachte - auch für das Denken, das wirtschaftliche und soziale Leben. Behandeln soll die Arbeit über alle Abschnitte hinweg Themen wie den Umgang mit dem Judentum in Coburg, den Umgang der Nazis mit Gewalt, Widerstand in Coburg und die jeweiligen Schlüsselpersonen.
Ein großes Pensum, und das soll eine einzige Person bewältigen, die nun gesucht wird. Sie sollte bereits eine Doktorarbeit geschrieben, also den Nachweis erbracht haben, dass sie mit solchen Themen umgehen kann. Bis Jahresende soll sie gefunden sein. Vor der Ausschreibung sei noch zu klären, wie die Person bezahlt wird, sagte Melville: Über ein Stipendium, eine Festanstellung oder über die Anbindung an einen Lehrstuhl.
Drei Jahre sollen die Forschungen dauern, ein viertes kann dazu kommen, um das Buch zu schreiben, sagte Jürgen Kocka. Die Kommission wird sich mindestens einmal jährlich treffen und den Forschungsprozess begleiten. Außerdem wird der Stadtrat regelmäßig über die Arbeit der Kommission informiert. Der Stadtrat hat für das Projekt insgesamt 265 000 Euro bewilligt, verteilt auf die Jahre 2016 bis 2019.