Leben in der DDR: Marianne Birthler stellt ihre Biografie in Meeder vor
Autor: Gabi Arnold
Meeder, Montag, 09. März 2015
Marianne Birthler erinnert sich bei der Vorstellung ihres Buches "Halbes Land. Ganzes Land. Ganzes Leben." an ihr Leben in der DDR und an das Ende dieses Staates.
Den Begriff "Wende" benutzt sie nicht. Denn dieses Wort, sagt Marianne Birthler, habe sich der ehemalige Staatsratsvorsitzende der DDR Egon Krenz, ausgedacht. Viel lieber spricht die "Wächterin der Stasiunterlagen" von der friedlichen Revolution.
Zum internationalen Frauentag am Sonntag hat die Bücherei Riemann gemeinsam mit der IG-Metall in die Lernwerkstatt Frieden geladen. Birthler, die zehn Jahre lang (2010 bis 2011) als Bundesbeauftragte über die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der DDR wachte, hat am Sonntag aus ihrer Biografie "Halbes Land. Ganzes Land. Ganzes Leben." gelesen und mit den Besuchern diskutiert.
Leben in der DDR in den 1960er-Jahren
Marianne Birthler, geborene Radtke, beginnt mit der Kindheit in Ostberlin, wo sie in der Warschauer Straße lebte und von der vierten Etage den Leierkastenmann aus dem Fenster sah und wo der Scherenschleifer vorbeikam und die Oma
Zeitsprung. Birthler erzählt von der DDR in den 1960er-Jahren. "Nirgendwo auf der Welt, haben die Menschen das Rentenalter so herbeigesehnt wie in der DDR", sagt sie. Denn mit Eintritt ins Rentenalter, dies war bei Frauen das 60. Lebensjahr und bei Männern das 65. Lebensjahr, durfte man in den Westen reisen.
136 Tote
Birthler erzählt von Fluchtversuchen und von den 136 Menschen, die dabei ihr Leben verloren und den zugemauerten U-Bahnstationen, wo man das Vibrieren der Züge hörte. "Ich träumte damals eine Mischung aus Wunsch und Albtraum, das ich im Westen aussteige und nicht wusste, wie ich zurück komme." Das Leben mit der Mauer habe viele DDR-Bürger im Unterbewusstsein beschäftigt, weiß sie.
Nach dem Abitur arbeitet Marianne Radtke im Außenhandel und lernt ihren Ehemann kennen, wird schwanger und heiratet. "Ende der 60er-Jahre war es in der DDR üblich zu heiraten, wenn ein Kind unterwegs war." Die Mehrzahl der DDR-Frauen waren damals berufstätig, auch weil die Familien auf ein zweites Gehalt angewiesen waren. Die Krippen öffneten um sechs Uhr morgens und die Kinder wurden meist um 17 Uhr abgeholt, danach wurden die Einkäufe mit langem Schlangestehen erledigt. "Es war also kein Wunder, wenn man einen Teil der privaten Erledigungen während der Arbeitszeit erledigte. Denn wenn die Haare während der Arbeit wachsen, lasse ich sie auch während der Arbeit schneiden."
Plötzlich saß sie in einer Limousine
Birthler springt zu den Ereignissen im Herbst 1989. Da die Kirchen der einzige Raum waren, um legale Arbeitskreise zu bilden, entstand dort das Zentrum der Opposition. Nach dem 9. Oktober ("dem eigentlichen Datum der friedlichen Revolution") ging es im Galopptempo weiter. Zu den ersten freien Volkskammerwahlen gingen die DDR-Bürger am 18. März 1990 an die Wahlurne. Es befremdete Birthler, die Spitzenkandidatin von Bündnis 90/Die Grünen, dass sie mit einer Limousine zum Wahllokal chauffiert wurde. "Das war albern, aber es passierten fast jeden Tag merkwürdige Dinge." Obwohl das Wahlergebnis damals enttäuschend ausfiel, war sie glücklich. "Trotz Niederlage war ich nicht traurig; denn wir waren freie Bürger in einem freien Land."
Den sanften allmählichen Weg der Wiedervereinigung hätten die Ostdeutschen aber nicht gewollt. Es waren viele gemischte Gefühle, die ihr am Vorabend der deutschen Einheit durch den Kopf gingen. "Die DDR wird es in wenigen Stunden nicht mehr geben, ein Haus, zwar kein schönes, eine Bruchbude, aber doch mein Zuhause", erinnert sie sich. Mit der Wiedervereinigung habe sich für die Menschen im Osten alles verändert. "Manche fühlten sich wieder wie Schulanfänger, obwohl sie gestandene Leute waren." Birthler erzählt nun von ihrer Zeit als Bundesbeauftragte für die Stasiunterlagen in den Jahren von 2000 bis 2011. "Der Osten wollte die Öffnung der Akten, der Westen war eher zögerlich." Und bis heute gehe der Streit quer durch alle Parteien.
Biografische Daten Marianne Birthlers Geschichte ist durch die doppelte Erfahrung des Lebens in der DDR und im wiedervereinten Deutschland gekennzeichnet. Aufgewachsen in Ost-Berlin, setzte sie sich schon als junge Frau für mehr Selbstbestimmung unter den Bedingungen der Diktatur ein. Ihre Haltung führte sie Mitte der achtziger Jahre in die Opposition gegen den SED-Staat und schließlich in das Zentrum der revolutionären Ereignisse von 1989. Als erste Kultusministerin im neuen Bundesland Brandenburg, erste Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen und als Bundesbeauftragte für die Stasiunterlagen bewies sie große Unabhängigkeit. Marianne Birthler, 1948 in Berlin geboren, war von 2000 bis 2011 als Nachfolgerin von Joachim Gauck die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Sie war eine der Akteurinnen der Freiheitsrevolution von 1989, Ministerin in Brandenburg und Vorsitzende der Partei Bündnis 90/Die Grünen.