Ketschenbach diskutiert über Flüchtlinge
Autor: Rainer Lutz
Neustadt bei Coburg, Donnerstag, 24. Sept. 2015
Minderjährige, die nach der Flucht alleine in Deutschland ankommen, müssen besonders betreut werden. Etwa 40 von ihnen werden demnächst im ehemaligen Kindergarten im Neustadter Stadtteil untergebracht. Bei manchen Bürgern gibt es Ängste.
Flüchtlinge kommen in den Ort. Das ist die Nachricht, die zurzeit in vielen Gemeinden die Menschen in Aufregung versetzt. Sie weckt Hilfsbereitschaft bei den einen, Sorgen und Angst bei den anderen. Dass es in Ketschenbach nicht anders ist, zeigte sich am Mittwochabend bei der Bürgerversammlung, die Oberbürgermeister Frank Rebhan (SPD) außerplanmäßig im "Lindenhof" einberufen hatte. Es galt, Ketschenbach auf die Ankunft von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen vorzubereiten, die künftig im ehemaligen Kindergarten wohnen werden.
Es sind nicht die ersten. Etwa 60 junge Leute hat der Landkreis bereits in seiner Obhut. Wer unter 18 ist und ohne Erziehungsberechtigte in Deutschland ankommt, muss per Gesetz nach Jugendhilferecht betreut werden. Angelika Sachtleben, Leiterin des Jugendamtes am Landratsamt, erklärt im vollbesetzten Lindenhof-Saal, was das bedeutet.
Für die etwa 40 Jugendlichen, die in den früheren Kindergarten in Ketschenbach einziehen werden, stehen rund um die Uhr zwei Pädagogen als Betreuer zur Verfügung, sieben insgesamt. An sie können sich auch Nachbarn wenden, wenn sie helfen wollen oder sie vielleicht etwas stört. Ab 22 Uhr ist Bettruhe. Der Tagesablauf unterliegt festen Regeln. "Diese Menschen haben auf der Flucht normales Leben regelrecht verlernt", erklärt sie. Jetzt müssen sie es wieder lernen, "das kann ein paar Tage dauern." Doch die Erfahrung aus allen Einrichtungen dieser Art in de Region zeige, dass die Rückkehr in strukturiertes Leben schnell erfolgt.
Deutschkurs in Rödental
"Das erste ist eine gesundheitliche Versorgung", erklärt die Jugendamtsleiterin. Schon in der zweiten Woche beginnt der obligatorische Sprachkurs. Für die Ketschenbacher Gruppe findet er in Rödental statt.
Werktags fahren sie morgens mit dem Zug dort hin, kommen am Nachmittag zurück. Unterdessen erstellt das Amt für jeden einen eigenen Plan. Es geht um die Frage, wie es nach dem Sprachkurs weiter geht. Alter, Vorbildung, Potenziale werden erfasst - vielleicht wird nach Angehörigen geforscht. Manche der Jugendlichen sind alleine geflohen, andere, weil sie ihre Eltern in Syrien, Afghanistan oder Pakistan verloren haben, wieder andere verloren ihre Eltern auf der Flucht oder wurden von ihnen getrennt und suchen nun nach ihnen.Angelika Sachtleben gibt sich Mühe, Bedenken schon im Vorfeld der unumgänglichen Diskussion auszuräumen. Es gelingt ihr nicht bei allen, die in den Lindenhof gekommen sind. Einige haben große Angst mit in den Saal gebracht. "Muss ich meine Gartentür jetzt doppelt abschließen?", will ein Anlieger der Straße wissen, in der die Einrichtung liegt, und: "Was, wenn da Kindersoldaten dabei sind? Was machen wir dann?"
Es ist der Moment, in dem Oberbürgermeister Frank Rebhan (SPD) das Wort ergreift. Er versucht Verständnis aufzubringen für abstrakte Ängste, nicht im falschen Ton auf den polemischen Vorschlag zu reagieren, er und die Stadträte könnten doch die Flüchtlinge bei sich zu Hause aufnehmen, dann wäre das Problem gleich gelöst. Der Oberbürgermeister findet klare Worte. Deutschland, könne nicht alle aufnehmen, die irgendwo auf der Welt auf der Flucht sind. Doch die Flüchtlinge, die jetzt hier ankommen, werden der Stadt zugeteilt. Sie menschlich und respektvoll zu behandeln, sei schlicht die menschliche Pflicht aller. Nein, eine Garantie, dass es nie zu einem unerwünschten Zwischenfall kommt, gebe es nicht. Die könne es nie geben, wo Menschen zusammen leben, egal, welcher Herkunft. Aber in allen Einrichtungen, die er besuche, treffe er nur auf bescheidene, dankbare und höfliche Menschen, für die ein Lächeln schon eine Wohltat ist.
Lächeln ist das Stichwort für Heike Stegner-Kleinknecht. Die SPD-Stadträtin zeigt Verständnis für die Angst, gerade bei Frauen. Sie habe diese Angst selbst gespürt. Gerade deswegen aber den Kontakt gesucht und bei den Helfern der Awo Flüchtlinge getroffen: "Wenn sie denen ein Lächeln schenken, ist das Eis sofort gebrochen. Ich habe nur tolle Begegnungen gehabt".
Stichwort Frau: Eine Bürgerin hat besonders viel Angst. Eine Betreuerin der Einrichtung für minderjährige unbegleitete Flüchtlinge in Rödental stellt klar: "Ich bin auch eine Frau. Wenn ich vor der Einrichtung ankomme, wird mir die Tür aufgehalten. Was ich zu tragen habe, wird mir abgenommen. Alle sind höflich und respektvoll."
Bewegende Berichte
Es sind die Berichte über die Arbeit des Dritten Bürgermeisters Martin Stingl (SPD) oder des Notarztes Gerhard Beyer, die unzählige Stunden ehrenamtlicher Arbeit in der Frankenhalle verbringen, teils mitten in der Nacht zur Verfügung stehen, wenn dort neue Flüchtlingstransporte eintreffen, um nach wenigen Tagen wieder auf den Weg gebracht zu werden. Berichte über Mütter, deren Säuglinge dem Tode nahe von Annette Rebhan, der Frau des OB, und ihrem Mann ins Klinikum nach Coburg gebracht und dort wieder abgeholt werden. Es sind Erlebnisse von Betreuern und Begegnungen von Kommunalpolitikern mit Flüchtlingen, die eindrucksvoll schildern, wie wenig von allen Vorurteilen sie zutreffend fanden.
Es sind all diese Argumente, die viele überzeugen, dass Rebhan Recht hat, wenn er sagt: "Es sind Menschen, die da kommen, keine Ungeheuer!"
Ängste sitzen tief
Doch die Ressentiments bei einigen wenigen sind tief eingefressen. Das zeigt sich, als sie erfahren, dass die Jugendlichen zu Fuß zum Bahnhof gehen werden, sie ihnen also auf der Straße begegnen können. Ein Schock. Da hilft auch nicht, dass Angelika Sachtleben sagt: "Die haben zu Fuß von Syrien hierher gefunden, die finden auch den Weg zu ihrem Deutschkurs."Einige Wochen nach der Ankunft wird es ein Fest geben. Dann sind die Ketschenbacher eingeladen, in den alten Kindergarten zu kommen und die Neuankömmlinge kennen zu lernen. In Rödental war das eine Begegnung, die auf beiden Seiten viel Verständnis hervorbrachte, schildern Besucher.
Und dann ist da noch die nächste Bürgerversammlung. Sie findet wie geplant Anfang 2016 statt. "Dann können wir über die ersten Erfahrungen sprechen, die alle bis dahin gemacht haben", sagt der OB. Und wenn nun schon eine Extra-Bürgerversammlung stattfindet, will er am Ende doch noch wissen, "ob irgendwo der Kanaldeckel klappert." Doch für solche Probleme hat an diesem Abend dann doch keiner Gedanken.