Jugendlicher (15) vom Zug überfahren: Eine Mutter sucht Antworten
Autor: Sandra Hackenberg
Coburg, Dienstag, 07. Dezember 2021
Sam Gericke (15) wird von einem Zug erfasst. Ein Suizid ist für seine Mutter undenkbar. Vom verschollenen Handy ihres Sohne erhofft sie sich Hinweise.
Als Sam seine Mutter abends fragt, ob sie ihn am nächsten Morgen zum Bahnhof fahren kann und sie, müde von der Spätschicht, Nein sagt, weiß Karina Gericke (41) nicht, dass sie gerade zum letzten Mal mit ihrem Sohn gesprochen hat.
Zwölf Stunden später überbringen Polizeibeamte und ein Notfallseelsorger der Neustadterin die Nachricht, dass Sam kurz vor 6 Uhr von einem Zug erfasst wurde, als der 15-Jährige eigentlich schon bei seiner Ausbildungsstelle in Dörfles sein sollte. Seitdem vergeht kein Tag, an dem sich Karina Gericke nicht fragt, was passiert wäre, wenn sie ihren Sohn an diesem Morgen zum Bahnhof oder sogar bis zu seiner Arbeitsstelle gefahren hätte. Und ob sie so seinen Tod hätte verhindern können.
Der Nebel stiehlt an diesem Morgen des 9. Novembers die Sicht. "Der Zugführer und der Schaffner, der auch gerade im Führerhaus war, haben ausgesagt, dass Sam plötzlich einfach da stand", schildert seine Mutter. Der Zug sei zu diesem Zeitpunkt etwa 70 Stundenkilometer schnell gewesen, zum Reagieren blieb keine Zeit.
Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft haben die Ermittlungen zu dem tragischen Unglück kurz vor dem Bahnhof in Dörfles-Esbach vier Wochen später noch nicht abgeschlossen, noch immer werden laut dem Sprecher der Staatsanwaltschaft Spuren ausgewertet und Zeugen befragt. Weder Suizid noch Fremdverschulden könnten zum jetzigen Zeitpunkt ausgeschlossen werden. "Die Akte liegt noch bei der Kriminalpolizei."
Die Ungewissheit, die möglichen Erklärungen der Behörden lassen Sams Mutter aber keine Ruhe. "Nie im Leben hätte er das getan", beteuert die Alleinerziehende. "Er hat mit seinem Bruder schon Pläne für dessen 18. Geburtstag geschmiedet. Ich habe Millionen Fragen." So lange Karina Gericke auf diese keine Antworten bekommt, steht ihr Leben still. Abend für Abend sitzt die 41-Jährige alleine auf ihrer Couch im Wohnzimmer,vor sich auf dem Tisch ein Buch mit dem Titel "Am Ende bleibt die Liebe", hadert und grübelt. Im Haus ist es vor vier Wochen still geworden. Sams älterer Bruder (17) ist oben, die beiden seien ein Herz und eine Seele gewesen und hätten keine Geheimnisse voreinander gehabt.
Ein ganz normaler Teenager ist Sam laut seiner Mutter gewesen, der erst im September seine Ausbildung zum Maschinen- und Anlagenführer begonnen hatte. Jeden Morgen um 4.49 Uhr musste er dafür mit dem Regionalexpress von Neustadt nach Dörfles fahren. Der Zug kam auch am 9. November planmäßig zwölf Minuten später in Dörfles an. Vom Bahnhof aus hätte Sam Gericke nur noch einen Fußmarsch von wenigen Minuten bis zu seiner Arbeitsstätte gehabt. Doch dort kam er nicht an.
Stattdessen erfasst 45 Minuten später ein Regionalexpress den 15-Jährigen auf dem Bahngleis kurz vor der Haltestelle in Dörfles. Bis heute ist unklar, wie Sam Gericke ins Gleisbett geraten ist.