Grenzöffnung im Coburger Land: Der "Zar" hat es stets gewusst
Autor: Rainer Lutz
Coburg, Mittwoch, 02. Oktober 2013
Die Überraschung war groß, an jenem 9. November, als die Mauer fiel - aber nicht für alle.
Selbst als es passierte, war es kaum zu glauben. "Die Grenz' is' auf!" Dieser Ruf schien wohl all denen, die seit Jahrzehnten, oft seit sie denken konnten, an dieser unüberwindlichen innerdeutschen Grenze lebten, noch unglaublicher als Bundesbürgern im Westen der Republik, die den "Eisernen Vorhang" vielleicht nur aus dem Fernsehen kannten. Aber es stimmte. In Rottenbach war der Damm zur Freiheit von Osten her gebrochen - wie zuvor die Mauer in Berlin. Durch die Öffnung zwängten sich Trabis und Wartburgs zu Tausenden in jener Nacht des 9. November 1989. Und - wer hätte es anders erwartet - sie fuhren auch wieder zurück.
Ein Zollbeamter, der damals auf bayerischer Seite am Grenzübergang in Rottenbach stand, beobachtete, dass häufig ein Fahrer allein im Trabi ankam, wendete und zurückfuhr, sobald er sicher war, dass er Westdeutschland erreicht hatte. Es dauerte oft Stunden, bis derselbe Fahrer wieder erschien.
Es war keine Falle. Die Trabis rollten. Die Sperranlagen wurden löchrig. Die Menschen schufen Verbindungen, nein, sie eroberten die Verbindungen zurück, die ihnen genommen worden waren. Zuerst die großen, wie in Rottenbach, dann immer mehr. Nachbardörfer wurden wieder Nachbardörfer, nachdem sie über Jahrzehnte einander entfernter waren als Orte auf fremden Kontinenten.
Jeder kleine Übergang der entstand, hat seine eigene große Geschichte. Der, über den einstigen Kirchweg zwischen Weißenbrunn vorm Wald und Almerswind etwa, der über Nacht mit Kettensägen freigeschnitten und am Morgen mit Blasmusik und wehenden Fahnen - als allererstes durch ein Fass Bier - überquert wurde. Oder der zwischen Fischbach und Rückerswind, wo die Rückerswinder sich vornehm zurückhielten und einem alten Ehepaar den Vortritt ließen, das ausgerechnet an diesem Tag seine goldene Hochzeit feierte.
Ost und West begegnete sich am Ummerstädter Kreuz, zwischen Effelder und Meil schnitz, im Tunnel zwischen Tremersdorf und Görsdorf, zwischen Lindenau und Autenhausen, Rodach und Adelhausen oder Fürth am Berg und Mogger, um nur einige zu nennen. Einer der bedeutendsten Schnitte in den "Eisernen Vorhang" zwischen dem Coburger Land und Thüringen war der, der Neustadt und Sonneberg wieder eine Verbindung gab. Die hohe Politik beider Seiten sonnte sich hier im Licht einer bevorstehenden Wiedervereinigung, die von den Menschen, dem Volk, gegen den Willen Regierender erreicht worden war.
In der Euphorie der ersten Stunden, mit ihren Warteschlangen vor den Auszahlstellen für das Begrüßungsgeld, vor den Elektronikmärkten und Gemüseläden. In diesem Taumel der Freude waren es wenige, die schon aussprachen, was nicht ganz so wenige ahnten: Es würde Probleme geben mit dieser Wiedervereinigung, und es würde viel Geld kosten, diese Probleme zu lösen. Viele dieser Schwierigkeiten wurden gelöst und in vielen Fällen wurden große Fehler begangen - doch meist, weil die, die im Augenblick handelten, nicht mit dem Wissen handeln konnten, das ihnen die Besserwisser späterer Jahre voraus haben würden. Es waren eben alle überrascht, unvorbereitet, weil doch keiner ahnen konnte, dass die Mauer fällt. Wirklich nicht? Es gab Menschen wie Ferdinand Fischer.
Der resolute "Zar" Ferdinand, Bürgermeister von Rödental und stellvertretender Landrat, war belächelt worden, als er bei allen Planungen stets auf die Zeit nach dem Fall der Grenze hinwies. Bei der Einweihung der Therme in Rodach etwa oder beim Richtfest für das, was später die Möbelstadt Schulze werden sollte. Ferdinand Fischer wusste, dass ein Regime, das auf Unterdrückung und Bespitzelung setzt, das Menschen hinter Zäune sperrt, nicht von langer Dauer sein kann. Eigentlich hätten es alle wissen müssen.