Europa vereint im Antisemitismus
Autor: Helke Renner
Coburg, Donnerstag, 21. März 2019
Götz Aly stellte im "Haus Contact" sein Buch "Europa gegen die Juden: 1880 - 1945" vor und sprach über die Mitschuld von Deutschlands Nachbarn am Holocaust.
Judenhass und Judenverfolgung sind mitnichten ein deutsches Phänomen. Sie sind gesamteuropäisch und kulminierten im Holocaust des nationalsozialistischen Deutschlands. Diese an sich nicht neue Erkenntnis macht Götz Aly zum Ausgangspunkt seines Buches "Europa gegen die Juden: 1880 - 1945", das er am Mittwochabend im "Haus Contact" vorstellte und das eine erschütternde Sicht auf die Ursachen der Massenvernichtung von Juden aufzeigt. Dazu eingeladen hatte der Arbeitskreis "Lebendige Erinnerungskultur" in Kooperation mit der Buchhandlung Riemann, dem evangelischen Bildungswerk, der Initiative Stadtmuseum Coburg und "Demokratie leben".
Götz Alys These: Es gibt einen modernen Antisemitismus, er ändert sich allerdings im Lauf der Jahrhunderte. Woher aber rührt er? Einen religiösen Zusammenhang sieht der Autor nur bedingt. Mit der um 1700 einsetzenden Aufklärung, in der rationales Denken eine wichtige Rolle spielte, und der Gründerzeit am Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland, die mit einem wirtschaftlichen Aufschwung verbunden war, rückt ein anderes Phänomen in den Fokus: Sozialneid.
Götz Aly erläutert das so: "Die Juden hatten eine starke Bildungsaffinität. Ihre Religion setzt Lesen und Schreiben voraus, aber auch die Interpretation des Gehörten. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts machten 65 Prozent der jüdischen Schulkinder einen höheren Schulabschluss, viele gingen bis zum Abitur und studierten schneller."
Und Bildung war transportabel, wie es Götz Aly formuliert. Auch wenn die Juden aus einem Land ins andere flüchten mussten, wenn ihnen öffentliche Bildung versagt wurde, waren Familien und Rabbis in der Lage, wertvolles Wissen weiterzugeben. Die Folge: Juden wurden erfolgreiche Unternehmer, Universitätslehrer, Juristen, Ärzte.
Von Frankreich bis Rumänien
Das schürte den Antisemitismus in Europa, zum Beispiel in Frankreich. Dort wurde nach der Besetzung durch die deutsche Wehrmacht die Deportation der Juden von der kollaborierenden Regierung bereitwillig unterstützt. Dass trotzdem drei Viertel der jüdischen Bevölkerung gerettet wurden, sei der Kirche, den Klöstern oder einfach nur den Nachbarn zu verdanken.
Das habe die Menschen aber nicht daran gehindert, die nach dem Zweiten Weltkrieg zurückkehrenden Juden hart zurückzuweisen. Deren Eigentum war inzwischen nämlich an die Bevölkerung verteilt worden.
In Russland, wo vor dem Ersten Weltkrieg die Hälfte aller Juden lebte, waren Pogrome, Ghettoisierung und Diskriminierung an der Tagesordnung. Zwei Millionen Juden verließen darum das Land in Richtung USA.