Druckartikel: Erinnerung braucht solide Grundlagen

Erinnerung braucht solide Grundlagen


Autor: Simone Bastian

Coburg, Montag, 06. November 2017

Viele Städte tun sich schwer mit dem Teil ihrer Geschichte zwischen 1918 und 1945: Warum München hier für Coburg ein Beispiel ist.
Adolf Hitler verlässt am 15. Oktober 1935 das Coburger Rathaus.  Foto: Staatsarchiv Coburg, 6_9-237


"Ich kann nur einer Sache gedenken, die ich auch kenne", sagt Gert Melville. Der Professor für Mittelalterliche Geschichte, der in Dresden lehrt und forscht und in Coburg lebt, fungiert hier auch als Sprecher einer Kommission, die ein wichtiges Projekt der Stadt begleitet: Die Stadt Coburg lässt ihre Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufarbeiten mit einem Schwerpunkt auf der Zeit des Nationalsozialismus, der in Coburg schon früh spürbar wurde. Coburg hat sich bislang schwer getan mit diesem Teil seiner Vergangenheit, doch damit sei die Stadt nicht allein, sagt Melville. Er bietet dafür einen Zeugen auf, der es wissen muss: Am Freitag, 10. November, 19.30 Uhr, spricht Michael Stephan, Leiter des Stadtarchivs München, in Coburg über das Thema Erinnerungskultur.
"München: Von der ,Hauptstadt der Bewegung‘ zur ,Hauptstadt des Erinnerns‘" ist der Vortrag überschrieben. Michael Stephan wird darauf eingehen, dass es nicht einfach war und lange dauerte, bis 2015 das NS-Dokumentationszentrum in München eröffnet werden konnte. "Die Erinnerung an die braune Vergangenheit als ,Hauptstadt der Bewegung‘ störte das neu geschaffene städtische Selbstverständnis von der angeblichen ,Weltstadt mit Herz‘", heißt es in der Einladung.
Veranstaltet wird der Vortrag von der Historischen Gesellschaft Coburg, deren Vorsitzender Gert Melville heißt, sowie von der Stadt und der Volkshochschule Coburg. Als vierter Partner ist am Freitag das Staatsarchiv dabei, wo der Vortrag am Freitag auch stattfinden wird.
"Die Nazis haben gewusst, dass Archive Institutionen des kollektiven Gedächtnisses sind", sagt Alexander Wolz, Leiter des Coburger Staatsarchivs. Deshalb hätten die Nationalsozialisten auch früh angefangen, Archivalien zu ihrer eigenen Geschichte zusammenzutragen. So hätten sie unter anderem gezielt Erinnerungen an den Deutschen Tag in Coburg am 14./15. Oktober 1922 gesammelt. Hier hatte Adolf Hitler seinen ersten großen Auftritt vor versammelten Parteigängern der nationalen und völkischen Gruppierungen, und er erregte seinerzeit großes Aufsehen, weil er mit 800 SA-Männern in die Stadt geradezu einrückte.
Für Historiker sei Geschichte "eine Abfolge von Kämpfen um die Erinnerung", sagt Melville: Wer siegt, diktiert auch, was später in den Geschichtsbüchern stehen soll. Für Historiker sei der Kampf um die Erinnerung ein wissenschaftlicher: "Wir wollen nicht von vornherein etwas beweisen, sondern wir wollen etwas wissen." Für das Wissenwollen ist Eva Karl zuständig, die seit Anfang März im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte und finanziert von der Stadt die Geschichte zwischen 1918 und 1945 erarbeiten soll. Vieles, was Coburg Alltag war, erschließe sich aus den Verwaltungsakten der Stadtverwaltung. Zum Beispiel, wer noch Leistungen von der Fürsorge erhalten durfte und wer nicht. Von den Verwaltungsvorgängen führen die Linien zu den handelnden Personen und von da in andere Gesellschaftsbereiche: Partei, Kirchen, Wirtschaft. Was fehle, seien "Egodokumente" wie Briefe oder Tagebücher, die unmittelbar vom Alltag erzählen, und natürlich die Akten, die kurz vor Kriegsende vernichtet wurden. Da seien viele Personalakten führender Parteimitglieder dabei gewesen, erzählt Eva Karl. "Das zeigt, dass sie wussten, dass Erinnerung sich an Akten knüpft", merkt Archivleiter Wolz lakonisch an. Eva Karl ist für ihr Forschungsprojekt interessiert an Tagebüchern oder anderen Aufzeichnungen Coburger Bürger aus der Zeit 1918 bis 1950. Kontakt: E-Mail Eva.Karl@coburg.de; Telefon 09561/891473.


Vortrag und mehr

Termin Freitag, 10. November, 19.30, Staatsarchiv, Herrngasse ..: Vortrag von Michael Stephan "München: Von der ,Hauptstadt der Bewegung‘ zur ,Hauptstadt des Erinnerns‘". Eintritt 5 Euro (Vorverkauf, bei VHS Coburg, Löwenstraße 12, und Buchhandlung Riemann), 7 Euro an der Abendkasse. Im Anschluss ist ein kleiner Empfang geplant mit Möglichkeit zum Gespräch.
Reihe Die Vortragsreihe "Epoche unterm Hakenkreuz" umfasst drei Teile. Vortragende sind Mitglieder der Historikerkommission, die die wissenschaftliche Aufarbeitung der Coburger Geschichte des Nationalsozialismus begleitet. Der Folge-Vortrag von Professor Dieter Ziegler vom Lehrstuhl Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum befasst sich mit dem Thema "Die Großbanken und die deutschen Juden 1932 - 1939".