Druckartikel: Eltern und Erzieher fühlen sich allein gelassen

Eltern und Erzieher fühlen sich allein gelassen


Autor: Natalie Schalk

Coburg, Montag, 04. Februar 2013

In wenigen Monaten soll für alle Kinder ab einem Jahr ein Betreuungsplatz da sein. Ab August gibt es darauf einen Rechtsanspruch. Coburg gilt als Vorzeigestadt bei der Kleinkindbetreuung, doch selbst hier gibt es Probleme. Erzieher und Eltern fühlen sich von der Politik alleingelassen.
Bilderbuch-Kinder: Fion, Judith und Aaron sind zwei Jahre alt und besuchen die Bärengruppe der Kita St. Augustin.  Foto: Michael Gründel


Es sieht aus, als würde die Politik viel für die Familien tun. Aber Brigitte Kappel ist unzufrieden. Sie leitet die Katholische Kindertagesstätte St. Augustin in Coburg, einer Stadt, die seit Jahren überdurchschnittlich viele Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren hat - zumindest im Vergleich der westlichen Bundesländer.

Vor fünf Jahren richtete Kappel die erste Krippengruppe ein. Inzwischen sind es drei: 36 der 160 Kinder in ihrer Einrichtung sind jünger als drei Jahre. Aber die Plätze reichen nicht. "Wir könnten gut noch 20 belegen."
Kappel glaubt, dass im August viele Eltern enttäuscht sein werden. Manche, weil sie sich zu spät darum kümmern, in der gewünschten Einrichtung einen Platz zu beantragen. Eine Garantie darauf haben aber auch die nicht, die rechtzeitig kommen.



Nur über die Warteliste

So wie Michaela Latta. Sie war im dritten Monat schwanger, als sie ihre Zwillinge in der Kita St. Augsutin anmelden wollte - trotzdem gab es keinen Platz für Maximiliam und Felix. Die Zwillinge sind inzwischen 19 Monate alt und über die Warteliste nachgerutscht - gerade noch rechtzeitig, denn am 1. März muss ihre Mutter wieder arbeiten. Die Bürokraft hat sich bereit erklärt, zu erzählen, wie sie Familie und Arbeit unter einen Hut bringt. Aber die 36-Jährige ist heute nicht gekommen. "Die Zwillinge haben Fieber", erklärt Kappel. Der Alltag junger Mütter erfordert eben viel Flexibilität.

Kappel weiß, dass viele Eltern glauben, wenn sie den Kita-Platz gefunden haben, können sie arbeiten gehen und alles läuft automatisch. Wenn die Kita dann eine Mutter bei ihrer Arbeitsstelle anruft, weil das Kind krank ist und abgeholt werden muss heißt es oft: "O Gott schon wieder! Ich kriege Ärger mit dem Chef." Kappel hat selbst 24 Mitarbeiter - darunter auch Mütter mit kleinen Kindern. "Ich weiß, wie schwierig es für einen Arbeitgeber ist, wenn ein Mitarbeiter ausfällt." Und gerade die ganz Kleinen werden öfter krank. Sie sind anfälliger. Dann brauchen sie ihre Eltern. "Das muss der Arbeitgeber akzeptieren. Die Familien haben ja ein Recht darauf."

Familien unter Druck

Kappel hat den Eindruck, dass die Familien seit Einführung des Elterngeldes 2007 unter großem Druck stehen. "Seitdem kommen viele Kinder mit einem Jahr in die Krippe. Wenn das Elterngeld wegfällt, müssen die Frauen wieder arbeiten, weil der finanzielle Druck da ist." Auf der anderen Seite stehen die Familien auch gesellschaftlich unter Druck. Frauen fürchten, als Rabenmutter zu gelten, die ihr Kind in die Krippe abschiebt. "Das Wichtigste ist die Familie, dass die Kinder geliebt werden", sagt Kappel. "Aber es gibt auch Bereiche, in denen Fremderziehung besser funktioniert. Frauen sollten selbst entscheiden können, ob und wie viel sie wieder arbeiten wollen." Die Realität sieht anders aus.

Mutter Michaela Latta erklärt später am Telefon, dass es auch in ihrer Familie ums Geld geht. Aber nicht nur: "Für mich ist auch wichtig, wieder zu arbeiten." Sie lacht. "Gerade bei Zwillingen muss man zwischendurch mal wieder was anderes sehen. Außerdem wollen wir, dass die Kinder früh gefördert werden und dass sie lernen, mit anderen Kindern umzugehen." Das pädagogische Konzept der Einrichtung war genau das, was die Coburgerin sich für ihre Jungs wünschte. "Das ist das Problem: Gute Einrichtungen sind immer sehr ausgebucht."

Bis August nicht zu schaffen

Kappel sagt: "Mag sein, dass in der Statistik genug Plätze da sind, aber das entspricht nicht der Wirklichkeit. Und wir werden es bis August nicht hinkriegen!" Aus Gesprächen mit Kollegen, bei denen die Kleinkinderbetreuung gerade ausgebaut wurde oder noch wird, weiß Kappel: "Die stehen dann oft mit einem Neubau da und finden kein geeignetes Personal. Wie sollen wir Erzieher einstellen, die es nicht gibt?" Kappel ärgert das: "Die Politik schafft Krippenplätze, sorgt aber nicht dafür, wer die Kinder betreut. Damit werden die Berufsgruppe und die Träger alleingelassen."

Die Idee, arbeitslose Schlecker-Mitarbeiterinnen umzuschulen, zeigt, wie die Arbeit der Erzieher eingeschätzt wird. "Wahnsinn!", sagt Kappel. "Sicher sind da einige dabei, die ihren Beruf verfehlt haben und gut passen würden. Aber es ist nicht so, dass jeder Kinder betreuen kann! Schon gar nicht die ganz Kleinen." Kappel fordert verpflichtende Weiterbildungen in Kleinkindpädagogik. Sie selbst hat 2008 eine Krippenausbildung gemacht. Vergangenes Jahr folgte eine Fortbildung fürs Team.

Obwohl sie seit 30 Jahren als Erzieherin arbeitet, sei die Krippenarbeit eine besondere Erfahrung. "Die Unter-Dreijährigen sind so neugierig, so kompetent, sie haben so viele Fähigkeiten!" Sie seien noch "nicht so zugeschüttet" wie im Kindergarten. "VHS-Kurs, Reiten, Schwimmen. Oft bleibt so wenig Zeit zum Spielen. Zeit, im Alltag zu leben und zu lernen." Die Eltern haben Angst, dass ihr Kind später keinen Platz in der Gesellschaft findet. "Sie meinen's gut. Sie sind voll in der Mühle drin."

Bildung und Reife

Kappel spricht von Werteerziehung, religiöser Erziehung, von Bildung. "Wie wird Bildung definiert? Oft zählt ab der Schule nur noch Wissen, Lernen, Noten." Wie reif ein Kind ist, hänge nicht davon ab, ob es sich alleine die Schuhe zubindet. Oder das Alphabet kann. "Wichtiger ist, dass es sagen kann, was es will." Kinder müssten zu selbstständigen und selbstbewussten Menschen erzogen werden. "In unserem Beruf geht es nicht nur darum, dass die Eltern wieder arbeiten können. Wir könnten die Gesellschaft der Zukunft verändern. Aber bei diesen Rahmenbedingungen geht das nicht."

Kappel sagt, sie wisse nicht, wo das alles hinführe. "Ich finde es erschreckend." Sie schweigt, überlegt. "Manchmal", sagt sie dann, "manchmal denke ich, wir müssten geschlossen auf die Straße gehen. Wir fühlen uns oft hilflos." Aber Erziehern und Eltern bliebe für politisches Engagement gar keine Zeit. Und keine Energie. Sie sind überlastet, alleingelassen mit den Kindern, die eigentlich eine Aufgabe der gesamten Gesellschaft sind.