Eltern fordern gerechteres Schulsystem
Autor: Hannah Hemel
Coburg, Mittwoch, 24. Sept. 2014
Eltern schulpflichtiger Kinder halten das deutsche Schulsystem für stark reformbedürftig: Wie die 3. Jako-o- Bildungsstudie zeigt, fordern sie vor allem höhere Chancengleichheit und einheitliche Bedingungen für alle Schüler in Deutschland: 92Prozent sprechen sich für ein bundesweites Zentralabitur aus.
"Das gegenwärtige föderale System ist aus Sicht einer erdrückenden Mehrheit der Eltern willkürlich und ungerecht", sagte der Bildungsforscher Klaus-Jürgen Tillmann von der
Universität Bielefeld bei der Präsentation der Studienergebnisse in Berlin.
Das Zentralabitur werde als wesentliches Element eines gerechten Schulsystems
angesehen, in dem Leistungen tatsächlich vergleichbar sind. Für
die repräsentative Untersuchung wurden im Januar und Februar 2014
bundesweit 3001 Eltern mit schulpflichtigen Kindern im Alter bis zu 16
Jahren vom Sozialforschungsinstitut TNS Emnid befragt.
Die Bildungspolitik hat Tillmann zufolge nach diesem Votum ein massives
Legitimationsproblem: "Wenn neun von zehn Eltern das länderspezifische Abitur
als ungerecht und abschaffungswürdig ansehen, kann das in einem demokratischen
Staat nicht ohne Reaktionen bleiben. Eine Bildungspolitik, die Eltern
verstärkt einbeziehen will, wird mit solchen Forderungen umgehen müssen."
Andrea Spude, stellvertretende Vorsitzende des Bundeselternrats, forderte mit
Blick auf die Kritik der Eltern am föderalen Bildungssystem, das Kooperationsverbot
zwischen Bund und Ländern komplett aufzuheben: "Bund, Länder und
Kommunen müssen gemeinsam die Verantwortung dafür übernehmen, dass
Bildung und Ausbildung in ganz Deutschland unter gleichen Rahmenbedingungen
stattfinden. Der Bildungserfolg eines Kindes darf nicht davon abhängen, in
welchem Bundesland es aufwächst."
Sozialer Ausgleich statt Elitedenken
Mit 84 Prozent bzw. 83 Prozent hält eine deutliche Mehrheit der Eltern es für "sehr wichtig",
dass alle Kinder in Deutschland die gleichen Bildungschancen haben und dass
Wert auf soziales Verhalten gelegt wird. 81 Prozent wünschen sich, dass lernschwache
Schüler besser gefördert werden. Fast drei Viertel (73 Prozent) fordern, dass in allen
Bundesländern die gleichen Bedingungen herrschen. Der Leistungsgedanke sollte
dagegen nur für die wenigsten Eltern im Vordergrund stehen. Lediglich 27 Prozent
halten dies für ein "sehr wichtiges" Ziel der Bildungspolitik. Aber: Von der aktuellen
Praxis sind die Eltern massiv enttäuscht. Gerade die Ziele, die ihnen am
wichtigsten sind, sehen sie am wenigsten realisiert. Gleiche Bedingungen in den
verschiedenen Bundesländern kann nur eine Minderheit (16 Prozent) erkennen.
Lediglich ein knappes Drittel (29 Prozent) meint, dass Chancengleichheit für alle Kinder
herrscht und dass lernschwache Schüler ausreichend gefördert werden (32 Prozent).
Das wenig gewünschte Leistungsprinzip dagegen halten 72 Prozent der Eltern an
deutschen Schulen für überpräsent. Auch wenn im Vergleich zu den Jako-o-Bildungsstudien 2010 und 2012 in einigen Bereichen leichte Verbesserungen
festzustellen sind, sind die Defizite des deutschen Schulwesens aus Elternsicht
massiv.
Gegen Früheinschulung und frühen Übergang
Der Leistungsdruck wird von den Eltern insbesondere bei Schulanfängern kritisch
gesehen. 86 Prozent lehnen die Früheinschulung von Kindern vor dem 6. Lebensjahr ab.
8 von 10 Eltern (81 Prozent) machen sich dafür stark, dass die Vorschulzeit frei von
Leistungsdruck bleibt und verteidigen damit die kindlichen Spielräume. Auch bei
der Frage nach der Dauer der Grundschule beziehen die Eltern eindeutig Stellung:
Nur 24 Prozent befürworten die gegenwärtig vorherrschende Praxis der vierjährigen
Grundschule. Drei Viertel der Eltern möchten den Kindern mehr Zeit für das
gemeinsame Lernen einräumen: 58 Prozent sprechen sich für eine sechsjährige
Grundschule aus, 17 Prozent wollen den Übergang in die Sekundarstufe sogar erst nach
der 9. Klasse.
G8 nicht stressiger als G9 - trotzdem: starke Ablehnung des Turbo-Abis
Bildungsforscher Tillmann äußerte sich erstaunt zur Elternsicht auf die Stressbelastung
der G8-Schüler: "Die oft geäußerte Klage über den - im Vergleich zu
G9 - größeren Stress und Leistungsdruck an den G8-Gymnasien spiegelt sich in
den Studiendaten kaum wider." Sowohl in G8- als auch in G9-Bildungsgängen
gehen die Kinder nach Meinung ihrer Eltern gerne zu Schule (86 Prozent bzw. 89 Prozent)
und können die Anforderungen ohne elterliche Unterstützung gut bewältigen
(jeweils 72 Prozent). Nur sehr wenige Schüler werden von ihren Eltern für "überfordert"
gehalten (9 Prozent bzw. 5 Prozent). Allerdings erhalten G8-Schüler häufiger Nachhilfe als
G9-Schüler (23 Prozent bzw. 16 Prozent) und die Eltern helfen öfter bei der Vorbereitung auf
Klassenarbeiten (73 Prozent bzw. 64 Prozent).
Die Tatsache, dass in den vergangenen zwei Jahren immer mehr Gymnasialeltern
selbst Erfahrungen mit G8 gemacht haben, habe die Akzeptanz des Turbo-Abis
jedoch nicht erhöht, so Tillmann. Hätten sie die Wahl, würden acht von zehn Eltern
(79 Prozent) einen G9-Bildungsgang für ihr Kind wählen. Damit wird das Ergebnis der
2. Jako-o-Bildungsstudie von 2012 exakt wiedergegeben. Deutlich gestiegen ist
dagegen der Anteil der Eltern, die sich ein Doppelangebot von G8 und G9
wünschen - von 41 Prozent im Jahr 2012 auf nun 54 Prozent.
Ganztagsschulen: Versorgungsdefizit und Verbesserungsbedarf
Wie 2012 wünschen sich 70 Prozent der Eltern auch 2014 einen Ganztagsschulplatz für
ihr Kind. "Der stabil hohe Bedarf kann zurzeit in keinem Bundesland gedeckt
werden", erklärte Tillmann. Lediglich 39 Prozent aller Kinder besuchen bereits eine
Ganztagsschule. 31 Prozent der Elternwünsche können demnach aktuell nicht erfüllt
werden. Auch wenn die Versorgungslücke in den vergangenen zwei Jahren kleiner
geworden ist, sei es "dringend erforderlich, den Ganztagssektor weiterhin kräftig
auszubauen", so Tillmann. Dabei dürfe auch die qualitative Verbesserung der
bestehenden Angebote nicht vergessen werden. Zwar bescheinigen die Eltern den
Ganztagsschulen in der Jako-o-Bildungsstudie deutliche pädagogische Vorteile
gegenüber den Halbtagsschulen. Zugleich sehen sie aber in zentralen Aspekten
der Ganztagsschulpraxis erheblichen Optimierungsbedarf - insbesondere bei der
individuellen Förderung der Schüler (42 Prozent), der Verknüpfung von Unterricht und
außerunterrichtlichen Angeboten sowie der Hausaufgabenbetreuung (jeweils
30 Prozent).
Privatschulen: besser als öffentliche Schulen, aber Verschärfung
der Ungleichheit
77 Prozent der Eltern von Privatschülern meinen, dass die Kinder an einer Privatschule
besser gefördert werden als an einer öffentlichen Schule. Deutlich mehr als die
Hälfte (58 Prozent) der Eltern von Schülern an öffentlichen Schulen sehen das genauso.
Dies scheint zu einem großen Teil an den Lehrkräften zu liegen. Auch wenn die
Leistungen der Lehrer von den Eltern in der 3. Jako-o-Bildungsstudie insgesamt
gut bewertet werden: Lehrer an Privatschulen werden durchweg besser beurteilt
als ihre Kollegen an öffentlichen Schulen. Eltern sehen sie als fachlich kompetenter
(95 Prozent vs. 87 Prozent) und engagierter (88 Prozent vs. 76 Prozent) an. Privatschullehrer
erkennen und fördern die Stärken der Kinder besser (83 Prozent vs. 65 Prozent) und unterstützen
die lernschwachen Schüler effektiver (77 Prozent vs. 62 Prozent). Zudem stimmen
sich die Lehrkräfte an Privatschulen aus Sicht der Eltern besser untereinander ab
(79 Prozent vs. 61 Prozent) und setzen mehr auf moderne Unterrichtsmethoden (67 Prozent vs.
54 Prozent). Insgesamt bewerten die Eltern auch die Angebote, die über den Unterricht
hinausgehen an Privatschulen deutlich besser (82 Prozent vs. 59 Prozent). "Die Unterschiede
in der Bewertung zeigen, wo öffentlichen Schulen sich verbessern müssen", sagte
die Bildungsforscherin Prof. Dagmar Killus von der Universität Hamburg bei der
Studienpräsentation. Die Entwicklung guten Unterrichts sei dennoch kein Privileg
privater Schulen. "Dass dies auch unter den Bedingungen öffentlicher Schulen
sehr gut gelingen kann, zeigt nicht zuletzt der ‚Deutsche Schulpreis', der in der
Vergangenheit ganz überwiegend an öffentliche Schule vergeben wurde."
Trotz der guten Bewertung stehen viele Eltern der größer werdenden Zahl an
Privatschulen durchaus kritisch gegenüber. Nur die Hälfte (51 Prozent) aller Befragten
hält solche Schulen für eine sinnvolle Bereicherung des Bildungsangebots. Die
Gründe liegen auf der Hand: Gut zwei Drittel (67 Prozent) der Eltern, deren Kind eine
öffentliche Schule besucht, machen Privatschulen für eine Verschärfung der
Ungleichheit im Schulsystem verantwortlich. Dies meinen auch 41 Prozent der Eltern,
deren Kind eine Privatschule besucht. Dass wohlhabende Eltern ihre Kinder über
den Besuch einer Privatschule von anderen abschotten, befürchten sogar über drei
Viertel (76 Prozent) der Eltern, deren Kind auf eine öffentliche Schule geht - aber auch
37 Prozent der Eltern von Privatschülern.
Inklusion: Fortschritte und Skepsis
27 Prozent der befragten Eltern geben an, dass in der Schule ihres Kindes bereits
behinderte und nicht behinderte Kinder gemeinsam unterrichtet werden. Die
höchsten Werte finden sich in der Primarstufe (34Prozent) und in Gesamtschulen der
Sekundarstufe (45 Prozent). Inklusion findet demnach überwiegend in integrierten
Schularten statt.
Einig sind sich die Eltern darin, dass die nicht behinderten Kinder durch das
gemeinsame Lernen in ihrem Sozialverhalten profitieren: Fast 9 von 10 Eltern
(88 Prozent) sehen das so. Allerdings befürchtet auch knapp die Hälfte (46 Prozent) - wie in
der Jako-o-Bildungsstudie 2012 -, dass die nicht behinderten Kinder in ihrem
fachlichen Lernen gebremst werden. Gut zwei Drittel (71 Prozent) der Eltern gehen
allerdings weiter davon aus, dass behinderte Kinder an Sonderschulen besser
gefördert werden als an allgemeinen Schulen. Daran hat sich in den letzten zwei
Jahren nichts geändert.
Entscheidend für die Zustimmung zur inklusiven Beschulung behinderter Kinder ist
für die Eltern die Art der Behinderung: Bei körperlich beeinträchtigten Kindern und
Kindern mit Lernschwierigkeiten sind viele Eltern für gemeinsamen Unterricht
(91 Prozent bzw. 71 Prozent). Bei Kindern mit geistigen Behinderungen und solchen mit
Verhaltensauffälligkeiten sind die Eltern skeptischer: Nur 45 Prozent bzw. 43 Prozent können
sich hier eine gemeinsame Beschulung vorstellen. Dass Kinder mit geistigen
Beeinträchtigungen und mit Lernschwierigkeiten auch in Gymnasialklassen integriert
werden sollten, meinen lediglich 30 Prozent bzw. 46 Prozent der Eltern. Killus: "Schulbehörden
und Schulen müssen den Dialog mit Eltern suchen und dabei auch
deren Widerstände und Ängste thematisieren." Um eine inklusive Pädagogik an
Schulen verankern zu können, seien zusätzliche Ressourcen notwendig - also
mehr Lehrkräfte und mehr finanzielle Mittel. "Positiv ist, dass Eltern, die bereits
über Erfahrungen mit Inklusion verfügen, ihr etwas aufgeschlossener gegenüberstehen."
Unterstützungsleistungen der Eltern: zwischen Mitwirkung und
Überforderung
Viele Schüler werden von ihren Eltern zu Hause massiv unterstützt: Zwei Drittel
erarbeiten mit ihrem Kind den Lernstoff (66 Prozent), rund drei Viertel kontrollieren
Hausaufgaben (73 Prozent) oder helfen gezielt vor Klassenarbeiten und Referaten
(77 Prozent). Die Unterstützungsleistungen der Eltern liegen damit seit der 1. Jako-o-
Bildungsstudie 2010 auf einem stabil hohen Niveau. 89 Prozent der Eltern geben an,
dass sie sich verpflichtet fühlen, sich intensiv um die schulischen Leistungen ihrer
Kinder zu kümmern. 62 Prozent beklagen, dass sie dabei vieles von dem leisten müssen,
was sie eigentlich als Aufgabe der Schule sehen. "Angesichts anhaltender
Klagen über Rückzugstendenzen der Eltern sowie mangelndem Interesse an
schulischen Belangen sind diese Ergebnisse positiv zu bewerten", sagte Bildungsexpertin
Killus. Die intensive Unterstützung durch die Eltern müsse aber auch
kritisch gesehen werden. Besonders wenn sie von der Schule vorausgesetzt oder
sogar eingefordert werde. "Eltern mit einem niedrigeren Bildungsabschluss können
ihre Kinder wahrscheinlich weniger gut unterstützen als Eltern mit einem höheren
Abschluss. Ungleiche familiäre Voraussetzungen setzen sich damit in der Schule
fort. Mit Chancengleichheit hat das wenig zu tun", so Killus.
Trotz des starken häuslichen Engagements wünschen sich 58 Prozent der Eltern mehr
Möglichkeiten, um auch an der Gestaltung von Unterricht und Schule mitzuwirken.
Killus: "Es wäre sinnvoll, Eltern stärker in die Gestaltung von Schule einzubeziehen.
Sie können mit ihren Sichtweisen neue Impulse geben und sind bei
Reformprozessen gute ‚Übersetzer', die Ziele und Maßnahmen nach außen und an
die anderen Eltern kommunizieren können. Dieses Potenzial muss stärker genutzt
werden."
Die 3. Jako-o-Bildungsstudie ist im Waxmann Verlag unter dem Titel "Eltern zwischen
Erwartungen, Kritik und Engagement. Die 3. Jako-o-Bildungsstudie" erschienen und im
Buchhandel erhältlich (Print-ISBN 978-3-8309-3155-3, E-Book-ISBN 978-3-8309-8155-8).