Direkt vom Gerichtssaal ins Gefängnis
Autor: Christoph Böger
Coburg, Mittwoch, 30. Sept. 2020
Das Gericht verhängt empfindliche Freiheitsstrafen. Der Haupt-Treter wird sofort verhaftet und abgeführt. Plus Kommentar mit einer Einschätzung.
Mit sicherer Stimme spricht Christoph Gillot vom Richterpult aus die sechs Angeklagten rechts und links vor ihm an, sieht ihnen dabei abwechselnd direkt in die Augen, bleibt stets ruhig und sachlich im Ton. "Sie haben den Tod eines Menschen billigend in Kauf genommen und dem Opfer Leid und Schmerzen zugefügt, an denen es noch heute, also eineinhalb Jahre nach der Tat, leidet."
Davon sind nicht nur er, seine beiden Richterkollegen und die zwei Schöffen überzeugt. Das wissen alle an diesem Mittwochmorgen im fast voll besetzten Saal H vor der Großen Jugendstrafkammer am Landgericht in Coburg. Unter den Zuhörern sind auch zwei vom Gericht bestellte zivile Beamte der Kriminalpolizei Coburg.
Bekannte ringen mit den Tränen
Nach der Urteilsbegründung nehmen sie den Haupttäter auf Anweisung des Gerichtes fest und führen ihn ab. Ein Grund dafür ist die bei ihm möglicherweise bestehende Fluchtgefahr. Familienmitglieder, Bekannte und eine Freundin stehen mehr oder weniger regungslos daneben. Zwei junge Frauen drücken sich, andere sprechen sich Mut zu und flüstern tröstende Worte. Es fließen Tränen.
In den eineinhalb Stunden zuvor lauschen die sechs Täter auf der Anklagebank den detaillierten Ausführungen des Richters. Kaum einer hält seinem ernsten Blick dabei stand. Einer starrt stumm auf seinen Tisch. Ein anderer nimmt den Urteilsspruch mit überkreuzten Unterarmen regungs- und fast emotionslos zur Kenntnis. Ein Dritter faltet seine bunt gemusterte Gesichtsmaske nervös von rechts nach links und dann wieder zurück - so wie er es oft in der Verhandlung machte. Der noch am besten davon kommende Täter schüttelt immer wieder den Kopf, weil er und sein Anwalt auf einen Freispruch hofften - vergeblich.
Keine Freisprüche
Denn Freisprüche gibt es erwartungsgemäß im "komplexen, schwierigen und komplizierten" (O-Ton des Richters) Goldbergsee-Prozess nicht. Die Urteile sind basierend auf dem Jugendstrafrecht gefallen und am Ende stehen empfindliche Freiheits- und Geldstrafen: jeweils dreieinhalb Jahre Haft ohne Bewährung für den Haupt-Treter und den Anstifter.
Statt dem von seinem Verteidiger geforderten Freispruch wurde ein Mittäter zu zweieinhalb Jahren Aufenthalt in einer Entziehungsanstalt verurteilt. Mit einem Jahr und neun Monate auf zwei Jahre Bewährung kam ein vierter Angeklagter relativ gut weg, da ihm das Gericht keine Tritte gegen das Opfer nachweisen konnte.
Ein Jahr auf Bewährung erhielt der Angeklagte, der zur Abschreckung ein Sichelmesser mit zum Tatort brachte, das glücklicherweise nicht zum Einsatz kam. An der Schlägerei beteiligte er sich ebenso wenig wie der sechste Täter, der 120 Stunden gemeinnützige Arbeit aufgebrummt bekam.
Damit folgte das Gericht mit dieser einen Ausnahme weitgehend den Anträgen der Staatsanwaltschaft und der Vertreterin der Nebenklage. Die von zwei Anwälten geforderten Freisprüchen wies Richter Gillot deutlich zurück: "Natürlich gilt im Zweifel für den Angeklagten, aber hier müssen wir uns nicht künstlich dumm stellen!" Vier Verteidiger verzichteten gestern nach Absprache mit der Staatsanwaltschaft auf Rechtsmittel. Zwei hielten sich die Möglichkeit der Revision offen.
Der Vorsitzende begründete die Urteile mit dem bisher vernachlässigten Blick auf die Rechtsordnung. Denn die Tat sei nur aus dem Fokus der sechs Angeklagten und dank des Plädoyers der Nebenklägerin zumindest auch ein wenig aus Sicht des Opfers geschildert worden. Es gehe aber nicht darum, welche Sichtweise die Täter eine halbe Stunde nach der Tat oder heute haben, sondern allein um diesen Moment, als der Täter nicht einmal, sondern dreimal wuchtig gegen den Kopf des Opfers trat.
Nur zwei Treter stehen fest
Das Gericht war weiter davon überzeugt, dass die Bande mit viel Manpower gemeinsam eine Drohkulisse am Tatort herstellte und eine äußerst gefährliche Handlung nicht nur begann, sondern auch fortsetzte. Alle Beschuldigten mussten differenziert beurteilt worden, so Gillot, der einräumte, dass nicht festgestellt werden konnte, wer neben dem Haupttäter und einem inzwischen verstorbenen Bandenmitglied der dritte Treter war: "Es spricht zwar viel für Herrn S., aber wir wissen es nicht".
Unumstritten sei jedoch - egal ob jemand unmittelbar an der Schlägerei beteiligt sei oder nicht -, dass immer eine "psychische Beihilfe" vorliegt. "Da müssen Sie auch nicht den Kopf schütteln. So streng ist eben das Gesetz", so der Richter in Richtung des direkt vor ihm sitzenden Verurteilten. Der hatte bis zum Schluss fest mit einem Freispruch gerechnet.
Nach der Urteilsbegründung wirkte selbst so mancher Anwalt etwas ratlos. Vor allem die Rechtsvertreterin des unmittelbar nach Sitzungsende abgeführten Haupttäters. Aber was sollten die Verteidiger auch sagen? Mehrere Mandanten sind nach Überzeugung von Beobachtern des Prozesses offensichtlich "hoffnungslose Fälle".
Gerichtsprozesse, Strafanzeigen und Urteile scheinen den einen oder anderen Täter nicht sonderlich zu beunruhigen. Mindestens in einem Fall sei die Gefahr gegeben, dass der Verurteilte später einfach so weiter macht wie bisher. Davon war eine Vertreterin des Jugendamtes überzeugt. Die Verurteilten "gehören sicher nicht zu den Gewinnern des Lebens", stellte eine Frau beim Verlassen des Justizgebäudes fest. Ihre Begleiterin nickte zustimmend.
"Wie hoch ist der Preis"
Von einem Pflichtverteidiger war am Rande des Prozesses zu erfahren, dass seinem Mandaten viele Dinge völlig egal seien. "Er wollte von Anfang an nur von mir wissen, wie hoch der Preis ist, also wie lange er hinter Gitter muss." Auch dem Rechtsvertreter war seit Prozessbeginn klar, dass sein Klient für mehrere Jahre weg vom Fenster sein wird: "Man muss jetzt sehen, wie man ihn wieder in der Gesellschaft integrieren kann, wie er zurück in ein einigermaßen normales Leben findet".
Kommentar von Christoph Böger:
Dem Gericht gelang es im Goldbergsee-Prozess, viele Ungereimtheiten aufzuklären. Richter Christoph Gillot und sein Team machten einen hervorragenden Job. Souverän, deutlich und klar im Detail. Sachlich, verständlich, streng - selbst gegen Journalisten oder den Fahrdienst der Erziehungsanstalt. Zweimal forderte er Zuhörer auf, die Käppi vom Kopf zu nehmen: "Wir sind hier in einem Gerichtssaal und nicht in der Disco".
Gelegentlich begegnete der Vorsitzende den Beschuldigten so, wie diese das am besten verstehen, also in ihrer Sprache und mit deren eigenen Waffen.
Dabei verkniff sich der gewiefte Jurist auch die eine oder andere süffisante Bemerkung nicht. Als beispielsweise nach einem mysteriösen Karlsson gefahndet wurde, fragte der Richter, ob es sich dabei um "Karlsson vom Dach" handelt. Und als nach einer abgespielten Sprachnachricht plötzlich die "Russen-Mafia" im Raum stand - zu hören war: "Die Russen kommen auch noch" - fragte Gillot, ob die Thailänder auch noch unterwegs waren.
Die Ernsthaftigkeit verlor der Verhandlungsführer dabei aber zu keinem Zeitpunkt. Gemeinsam mit seinen Richtern und Schöffen kam er zu dieser brutalen Tat angemessenen Urteilen.
Trotzdem bleiben Fragen. Warum zeigten die sechs jungen Leute so spät Reue? Und davon auch nur einen Hauch. Von Demut war wenig zu spüren. Mit den Attributen Respekt und Anstand standen sie während des Prozesses auf Kriegsfuß. Selbst ihre sechs Verteidiger konnten keinen entscheidenden Einfluss nehmen.
Wer vor Gericht Dinge derart verharmlost oder unterschätzt, sich so cool, abgeklärt und gleichgültig präsentiert, wer oft dreist, wenig kooperativ und sich gewollt oder ungewollt naiv verhält, der muss sich über ein hartes Strafmaß nicht wundern und erst recht nicht beschweren.
Ihre Chance, Reue zu zeigen, einfach nur anständig und wahrheitsgetreu zu antworten oder sich öffentlich beim Opfer zu entschuldigen, nutzte das Sextett zwar im allerletzten Augenblick, doch ihre gequält vorgetragenen Statements kamen nicht aus innerer Überzeugung. Von wahrer Einsicht waren die Goldbergsee-Täter so weit entfernt wie Rainer Calmund von der Pulli-Größe XS.
Es ist richtig, dass zwei junge Männer ins Gefängnis müssen. Durch die Strafe sollen die Täter Sühne leisten und sich somit von ihrer Schuld befreien. Sühne ist aber nur dann möglich, wenn auch ein Schuldbewusstsein vorhanden ist. Die eigene Schuld erkennen und sie eingestehen sind erste Voraussetzungen, um Sühne zu leisten. Das war im Goldbergsee-Prozess nicht der Fall.
Warum das auch eineinhalb Jahre nach der Tat und fünf nervenaufreibenden Prozesstagen so ist und wie man dem beikommt - das bleibt die entscheidende und schwierigste Frage.