Die "gute Stube" von Neustadt braucht Impulse
Autor: Dieter Seyfarth
Neustadt bei Coburg, Dienstag, 09. Juni 2020
Läden schließen, Gaststätten machen dicht, nur noch wenige Geschäfte gibt es in der Kernstadt von Neustadt - das war vor 70 Jahren noch anders.
Zählte Neustadt 1939 nur 9605 Einwohner, war die Zahl durch Heimatvertriebene und Flüchtlinge in den Jahren 1949 bis 1950 auf 12813 angewachsen. Durchschnittlich zwölf Personen waren damals in einem der 1079 Häuser untergebracht. Dies ist dem "Adressbuch der Bayerischen Puppenstadt" aus dem Jahre 1949 von Felix Jügelt, dem Inhaber der gleichnamigen Buchdruckerei am Alexandrinenplatz, zu entnehmen. Es wirft ein Licht auf die "zwölf schicksalsschweren Jahre" Neustadts nach dem Kriegsende.
Diesem Adressbuch von 1949 ist auch zu entnehmen, dass es vor 70 Jahren in Neustadt in jedem Viertel und an fast jeder Ecke Lebensmittelgeschäfte, unzählige kleine Handwerksbetriebe, Bierwirtschaften und Cafés gab. Viele kreative Werbeanzeigen, die in diesem Adressbuch veröffentlicht sind, unterstreichen dies. Da herrschte ein quirliges Leben und buntes Treiben, ja, ein Gedränge in der Innenstadt. Es wimmelte nur so von geschäftigen Menschen. Die Achse vom Amtshof über den Steinweg und Marktplatz bis hin zur Heubischer Straße bildete die sogenannte "Rennbahn", auf der die Neustadter, vor allem nach Feierabend und am Wochenende, flanierten. So manche Beziehungen bahnten sich da an. Einkehr- und Vereinslokale waren vor allem der "Weiße Schwan" mit dem Lichtspielhaus vom "Kino-Karl" im Steinweg, der "Eckstein" am Markt sowie der "Rote Ochsen" und die "Kröckelei" (heutige Buchhandlung Stache) in der Heubischer Straße, das "Coburger Tor" am Alexandrinenplatz, die "Alte Post" in der Coburger Straße und der "Bräu-Karl" in der Sonneberger Straße. Wer noch spätabends einen Absacker machen wollte, der suchte das Café "Teddy-Bär" in der Kirchstraße auf.
Geselligkeit im Wirtshaus
Fast jeden Abend waren die Wirtshäuser gefüllt. Man tauschte sich aus, erfuhr Neuigkeiten, holte Ratschläge ein und wickelte auch Geschäfte ab. Es war ein geselliges Leben. Neubaugebiete am Stadtrand gab es damals noch nicht, so dass sich das Leben in der Kernstadt abspielte. Zu erwähnen ist besonders das Gesellschaftshaus "Jägersruh", in dem regelmäßig am Wochenende Musik- und Tanzveranstaltungen stattfanden. Während der Narrenzeit lebten nach all den schweren Jahren die Kappenabende und die Faschingsvergnügungen wieder auf. Es herrschte ein Nachholbedarf an geselligen Veranstaltungen. Auch Kegelbahnen wurden zunehmend von Vereins- und Privatkeglern genutzt. Im Gesellschaftshaus "Grüntal", Domizil der Grüntalgesellschaft, erwachte wieder das Vereinsleben, ebenso wie im Schützenhaus der Privilegierten Schützengesellschaft. Nicht zu vergessen ist das "Bergschloss" in der Sonneberger Straße, in dem sonntags oftmals der Bandonion-Verein zum Frühschoppen aufspielte. Viele Sport- und Kulturvereine, die während des Dritten Reiches verboten waren oder zum Erliegen gekommen waren, konnten wieder gegründet werden. Und bei den Menschen wuchs eine Aufbruchstimmung, als sie merkten, dass es arbeitsmäßig und wirtschaftlich nach und nach aufwärts ging.
19 Fleischergeschäfte gab es, von denen heute nur noch Fleischmann, Luther und Schunk existieren. Feinschmecker wussten, wo es an einem bestimmten Tag eine leckere Mettwurst oder einen gut gewürzten Leberkäs gab. Andere schwörten bei dem einen oder anderen Metzger auf die gute Schweineplock oder auf den frischen gekochten Schinken. Wenn jemand Backwaren einkaufen wollte, der konnte unter 25 Bäcker- und Konditoreien wählen. Dominierend war noch die alteingesessene Puppen- und Spielwarenindustrie. Sage und schreibe 370 Betriebe, größere, kleinere und ganz kleine, machten dem Beinamen "Bayerische Puppenstadt" alle Ehre. Auch die Bezeichnung "Werkstatt des Weihnachtsmannes" hatte durchaus ihre Berechtigung (siehe Infokasten).
Ganz anders ist die Situation heute. Alles gibt es in Überfluss. Die großflächigen Einzelhandelsbetriebe decken fast alle Sortimente ab. Meist prägen sie überall in den Städten das Bild an den Stadteingängen. Dagegen veröden immer mehr die Innenstädte. Mit der Neugestaltung des Marktplatzes wird sicherlich die "gute Stube Neustadts" schöner. Hoffentlich entstehen dadurch neue Impulse für eine Mehrbelebung der Kernstadt.
"Werkstatt des Weihnachtsmanns"
370 Betriebe der Puppen- und Spielwarenindustrie nach dem Krieg: