Druckartikel: Der Übertritt macht den Schülern und Eltern Druck

Der Übertritt macht den Schülern und Eltern Druck


Autor: Christiane Lehmann

Coburg, Freitag, 29. Januar 2016

Was Nachhilfelehrer, Eltern und Schulpsychologen in Coburg zu den neuesten Ergebnissen der Bertelsmann-Studie sagen. Das Thema ist komplex.
Wenn die Wissenslücken schon zu groß sind, tut sich auch der Nachhilfelehrer nicht leicht.  Foto: Malte Christians/dpa


"Nachhilfe trotz guter Noten" war der große Aufmacher auf Seite 1 überschrieben. Claudia Kaesling, Leiterin des Lernzentrums in Coburg, kann das nicht bestätigen. Die Kinder, die ihr Lernzentrum besuchen, kämpfen schon eher mit Note Vier und schlechter. Bei den Grundschülern, denen sie Nachhilfe gibt, gehe es meistens darum, den Übertritt auf eine Realschule zu schaffen - also wenigstens den Schnitt von 2,66.

Viele ältere Schüler kommen eher zu spät - erst dann, wenn sich die Vier oder Fünf schon eingependelt hat. "Dann sollen wir die Wissenslücken innerhalb eines halben Jahres schließen und am besten noch um zwei Notenschritte verbessern", beklagt sie die Situation in Coburg. Viele Eltern wollen die Zwischenzeugnisse abwarten und schicken ihre Kinder erst dann zur Nachhilfe. Aber innerhalb von ein paar Monaten funktioniert das nicht so, wie sie es sich gerne wünschen.

Aus den jüngst veröffentlichten Ergebnissen der Bertelsmann-Studie geht hervor, dass Eltern durchschnittlich 87 Euro pro Monat für die Nachhilfe ihres Kindes ausgeben.


Stressfrei zum Abitur

"Was echt, so viel? Ist das denn nötig?", fragt eine Coburger Mutter von drei Kindern. Ihre Tochter bekommt Nachhilfe in Mathematik. Eine Stunde in der Woche für 25 Euro. Aber es sei der persönlicher Wunsch der Tochter, die Vier zu halten oder besser zu werden. Sie möchte gern stressfrei bis zum Abitur kommen, damit sie nicht kurz vor Schluss Panik bekomme, sagt das Mädchen.

Was die Abschlussnoten betrifft, ist die Mutter überzeugt, dass die tatsächlich immer wichtiger werden, "weil ja vorher nicht mehr so viel ausgesiebt wird". Die Erfahrung mit ihrem Sohn hat ihr deutlich gemacht: "Sobald es zur Uni gehen soll, wird geschaut, was auf dem Zeugnis steht." Wer den Numerus Clausus nicht erreicht, muss dann eben Wartezeiten in Kauf nehmen.

Ihre älteste Tochter hat selbst einmal einem anderen Kind Nachhilfe in der Grundschule gegeben. Ihr Resümee: "Da hätten die Eltern das Dreifache bezahlt. Aber der Junge war einfach überfordert - reife-technisch und intellektuell."


Quälerei für Eltern und Kind

Astrid Schump, Mutter von fünf Kindern, die Erfahrungen mit allen vier Coburger Gymnasien und den beiden Realschulen gesammelt hat, kommt zu dem Schluss: "Bezahlte Nachhilfe in der Grundschule, nur um den Übertritt zu schaffen, ist absurd. Wenn man in der Realschule oder im Gymnasium anfangs wegen Eingewöhnungsschwierigkeiten gelegentlich mal Nachhilfe braucht, ist das okay, aber nicht auf Dauer, nicht bis zur Abschlussprüfung oder Abi." Das sei eine Quälerei für Eltern und Kinder.

"Super" findet sie die Angebote der Realschulen: Vorbereitungskurse in den Ferien vor der Prüfung. "Ansonsten würde ich nur Nachhilfe zahlen, wenn mein Kind länger krank wäre und aufholen muss." Am besten sei das Angebot "Schüler helfen Schülern". "Aber wenn die Schule zum Kind passt, sollte im Normalfall keine Nachhilfe notwendig sein..."


Nachhilfe: In der Grundschule eine Ausnahme, später manchmal hilfreich

Wie sehen die Schulpsychologinnen Helga Geheeb, zuständig für die Grundschulen in Coburg, und Regina Knape (Realschulen und Gymnasien) die Notwendigkeit oder die Unterstützung der Kinder durch Nachhilfe?
Ganz eindeutig sagt da Helga Geheeb: "Nachhilfe muss in der Grundschule die Ausnahme sein. Sie kann in Kooperation mit der Schule, beispielsweise nach einer längeren Erkrankung oder bei einem Zuzug aus einem anderen Bundesland hilfreich sein. Auch die Angebote des Bildungspakets sind sehr hilfreich." Bei einem durchschnittlich begabten und leistungsmotivierten Kind mit einer "normalen" häuslichen Lernanregung und Unterstützung würden allerdings die Lernangebote des Unterrichts und die Vertiefung durch die Hausaufgaben völlig ausreichen.


Wer aufpasst, schafft's auch

Die Grundschulordnung gibt vor, dass für Hausaufgaben in etwa eine Zeitstunde eingerechnet werden muss. "Wer im Unterricht gut aufpasst, seine Aufgaben ordentlich und vollständig erledigt und bei den Hausaufgaben Selbständigkeit und Anstrengungsbereitschaft aufbringt, der schafft nicht nur die Anforderungen der jeweiligen Jahrgangsstufe, sondern auch den Übertritt an diejenige weiterführende Schule, die seinem Begabungs- und Motivationsniveau entspricht", betont die Schulpsychologin.
Ganztagesklassen, wie zum Beispiel an der Melchior-Franck-Grundschule oder Nachmittagsbetreuungen unterstützen bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Insbesondere die Ganztagesklassen bieten zusätzliche Intensivierungsmöglichkeiten. Grundsätzlich gilt bei allen Formen des Lernens: Neben der Begabung sind Anstrengungsbereitschaft und Pflichtbewusstsein wichtige Säulen des Schulerfolgs.
"Wer dem Lernen grundsätzlich ablehnend und widerwillig gegenübersteht, der wird auch mit Nachhilfe nicht weit kommen," ist Helga Geheeb überzeugt.


Druck fürs Lernen wichtig

Ein gewisser Druck in Form von realistischen Zielsetzungen fürs Lernen ist wichtig. Wer keine Anforderungen stellt, der ist mit Geringem zufrieden und lotet Potenziale nicht aus. Stress löst in unserem Körper Vorgänge aus, die die Aufmerksamkeit, das Durchhalten und die Selbstregulation steuern. Stress ist ein lebensnotwendiger Vorgang.
"Schlimm wird es bloß, wenn das Maß langandauernd überschritten wird. Dann wird Stress - man kann auch Druck sagen - zur Überforderung. Der Lernstoff der Grundschule an sich macht mal mit Sicherheit keinen Druck. Es ist der Umgang damit, der Angst auslösend sein kann. Die Aufgaben der Probearbeit sind nicht das Problem", betont die Lehrerin. "Problematisch werden sie, wenn das Kind damit Versagensängste verbindet, sich sorgt, den Anforderungen, den Hoffnungen der Eltern nicht gerecht zu werden. Die Konsequenzen der vermasselten Probearbeit lösen Angst aus. Die kann so groß sein, dass das Kind schon während der Leistungsabfrage völlig blockiert ist." Kinder wollen es ihren Eltern recht machen. Deshalb sei eine realistische schulische Zielsetzung sehr wichtig.
Die Schulpsychologin Regina Knape ist überzeugt: "Die meisten Eltern gehen eigentlich vernünftig mit dem Thema um, das heißt sie organisieren Nachhilfe, damit ihr Kind eine gewisse Hürde schaffen kann , wie einen besseren Schnitt für die mittlere Reife oder zum Schließen von angesammelten Wissenslücken." Dauernachhilfe über Jahre und in sämtlichen Fächern, wie das in anderen Städten der Fall sein soll, ist ihr in Coburg noch nicht begegnet. Auch Eltern, die ihr Kind regelrecht zwingen, in die Nachhilfe zu gehen, seien eher selten.
Nachhilfe sei ihrer Meinung nach auch nicht nur negativ zu sehen und hat nicht immer etwas mit zu viel Druck zu tun, sondern kann etwas ganz Nützliches und Legitimes sein. "Ich kenne Eltern, die sagen, wir haben selbst keine weiterführende Schule besucht und können nicht helfen, also lassen wir unser Kind extern im Nachhilfeinstitut unterstützen. Dadurch fühlt es sich sicherer", weiß sie.
"Oder Eltern, beide Ärzte im Klinikum, die sagen, wir arbeiten im Schichtdienst und können nicht regelmäßig mit unserem Kind wiederholen und Schulaufgaben vorbereiten. Das macht ein Student und unser Kind nimmt von ihm auch wesentlich mehr an als von uns als Eltern. Insgesamt haben wir als Familie dadurch weniger Stress."


Mehr Lehrer könnten helfen

Wie sieht es um ausreichend Lehrer an den Schulen aus? "Natürlich hätten wir gern in den Schulen selbst mehr Personalressourcen und Mittel, um die Kinder und Jugendlichen gleich dort unterstützen zu können, unabhängig vom Geldbeutel der Eltern oder unabhängig davon, ob sie, wenn sie Geringverdiener sind, über das Teilhabepaket Nachhilfe beantragen", sagt die Psychologin, selbst Gymnasiallehrerin. Es gebe an den Schulen zwar Nachhilfebörsen und "Schüler helfen Schülern"-Projekte, aber es müssten deutlich mehr Mittel für die individuelle Förderung geben, damit sich Lehrkräfte mit einzelnen Schülern befassen und ihnen fachliche und menschliche Hilfe bieten könnten. Ansätze dazu bestünden schon: Lerncoaching durch Lehrer, Angebote zur Hausaufgabenbetreuung, Kurse zum Lernen lernen.


Schwierig wird's in der Pubertät

Unabhängig vom Thema Nachhilfe: Es liegt in der Natur der Schule, dass sie Erwartungen und Leistungsansprüche hat, sie muss ja ihren gesellschaftlichen Auftrag erfüllen, den Lehrplan umsetzen, möglichst viele Schüler zum jeweiligen Schulabschluss führen. Dies insbesondere pubertierenden Jugendlichen zu vermitteln, sei für Lehrer wie Eltern nicht immer leicht und für die Jugendlichen oft schwer anzunehmen.
Besser als Druckausübung oder ein "Verdonnern zu Nachhilfe" sei es da, an realistischen Zielsetzungen zu arbeiten, über strukturierte Tages- oder Lernpläne, über Hilfe beim Selbstmanagement nachzudenken. "Dann kommt auch die Motivation wieder", ist sich Knape sicher.
"Wir erleben immer wieder Kinder, die ihre Eltern zwingen, den gesamten Schulstoff täglich mit ihnen nochmal durchzugehen, oder die nicht mehr richtig schlafen und essen können, weil sie sich in den Kopf gesetzt haben, die guten Noten aus in der Grundschule jetzt in allen Fächern auf dem Gymnasium zu behalten. Oder solche, die in extremer Konkurrenz zu manchen Mitschülern stehen und sich unter enormen Stress setzen", berichtet Knape.
Wenn sich Schüler selbst Stress machen - dann müsse man als Eltern baldmöglichst eine Beratungsmöglichkeit suchen - ob bei den Klassenlehrern oder Beratungslehrern, die es an jeder Schule gibt oder in besonderen Fällen beim schulpsychologischen Dienst.

Hintergrund
Jeder fünfte Gymnasiast bekommt Nachhilfe Bertelsmann-Studie (repräsentativ): Jeder siebte Schüler im Alter von 6 bis 16 Jahren (1,2 Millionen) nimmt einer Elternbefragung zufolge Nachhilfeunterricht.

Die Fächer 61 Prozent der Nachhilfeschüler setzen auf Förderung im Fach Mathematik, gefolgt von Fremdsprachen (46 Prozent) und Deutsch (31).  Das Geld Im Schnitt lassen sich die Familien den Zusatzunterricht monatlich 87 Euro kosten. Damit geben die Deutschen pro Jahr fast 879 Millionen Euro für Nachhilfe aus. Schüler aus Familien mit einem Haushaltseinkommen über 3000 Euro nutzen die Angebote häufiger als Elternhäuser mit weniger Geld.