Das Vergessen hat viele Gesichter
Autor: Cindy Dötschel
Sonnefeld, Freitag, 24. Sept. 2021
Die Zahl der Demenzkranken steigt kontinuierlich. Die Krankheit trifft jeden unterschiedlich. Je nach Stadium leben die Betroffenen in ihrer eigenen Erinnerungswelt. Ein Besuch im Seniorenheim.
Zielstrebig läuft Elisabeth* in den Gemeinschaftsraum der Wohngemeinschaft "Bieberbach". Sie grüßt erfreut in die Runde, dreht um und verabschiedet sich winkend mit den Worten, dass sie wieder weg sei. Dann verlässt sie den Raum. Davon, dass der CD-Player im Regal das Lied "Lebt denn der alte Holzmichl noch" abspielt, bekommt sie nichts mit. Auch nicht davon, dass eine andere Bewohnerin mitsingt und die Arme beim Einsetzen des Refrains in die Luft reißt.
Elisabeth ist einer von rund 240 000 Menschen in Bayern, die an Demenz erkrankt sind. Die Zahl der Betroffenen nimmt zu. Bis 2030 wird die Zahl dem Bayerischen Ministerium für Gesundheit und Pflege zufolge auf 300 000 steigen. Laut WHO ist die Tatsache, dass die Menschen dank besserer Lebensbedingungen deutlich älter werden als frühere Generationen, einer der Hauptgründe dafür. "In letzter Zeit bekommen wir sehr viele Anfragen von den Angehörigen Demenzkranker", sagt Gisa Vetter, Leiterin der ASB-Hausgemeinschaft "Anna von Henneberg" in Sonnefeld. In Sonnefeld ist rund die Hälfte der knapp 60 Bewohner betroffen.
Zwei Wohngemeinschaften für Demente
Für die an Demenz erkrankten Bewohner gibt es zwei Wohngemeinschaften im Erdgeschoss. "Sie können jederzeit zwischen den Wohngemeinschaften hin- und herlaufen und sich im Garten aufhalten, der vollständig abgeschlossen ist." Damit die Mitarbeiter jederzeit wissen, wo die Bewohner gerade sind, tragen alle einen Handfunksender. "Wenn jemand durch den Haupteingang nach draußen geht, geht ein Mitarbeiter hinterher und dreht eine Runde mit dem Bewohner", sagt Vetter. Generell kommt es eher selten vor, dass demente Bewohner das Gelände verlassen. "Demente gehen dann raus, wenn die Alltagsstruktur nicht mehr passt. Ein Mann konnte seine Frau jetzt beispielsweise länger nicht besuchen, weil er im Krankenhaus war. Sie ist in dieser Zeit öfter ausgebüchst."
Der Drang zu laufen
Bei Elisabeth zeigt sich die Demenz vor allem durch den Drang zu laufen. "Wenn sie weniger laufen würde, wüssten wir, dass etwas nicht in Ordnung ist. Genauso ist es bei einer anderen Dame, die den ganzen Tag singt", sagt Gerontofachkraft Heike Kothe-Zeiß. Während die Dame, die gerade noch den Holzmichl gesungen hat, jetzt in sich gekehrt vor ihrer Kaffeetasse sitzt, hat Elisabeth eine Runde durch den Garten gedreht und sich auf den Weg in die andere Wohngemeinschaft gemacht. Heike Kothe-Zeiß begleitet sie auf den letzten Metern in den Gemeinschaftsraum.
Dort sitzt Ursula* an einem Tisch. "Die Chefin ist beim Wirt und holt noch was", ruft sie Heike Kothe-Zeiß zu, als die den Raum betritt. Darüber, was sie gerade denkt, kann man nur spekulieren.Vielleicht denkt sie, dass sie auf ihrer alten Arbeit ist und ihre Chefin Mittagspause macht? Die Gerontofachkraft erwidert, dass sie sicher gleich zurück sein wird. Daraufhin wendet sich Ursula zufrieden ab. "Wenn wir dagegen reden, werden manche Bewohner böse", sagt Heike Kothe-Zeiß. Dagegen zu reden würde auch nichts bringen, weil die Bewohner das Gesagte im nächsten Moment wieder vergessen würden.
Während das Kurzzeitgedächtnis nicht mehr funktioniert, können sich Demente häufig an ihr früheres Leben erinnern. So auch Ursula. Nachdem sie früh aufgestanden ist und gewaschen wurde, möchte sie um die Mittagszeit meist kochen. "Ich sage dann zu ihr, dass das Essen schon fertig ist. Abends denkt sie, dass sie auf den Hof muss, um die Tiere zu füttern", erzählt Heike Kothe-Zeiß über Ursula. "Wir lösen die Situation durch die sogenannte Validation. Ich sage Ursula dann, dass das Füttern bereits erledigt ist."
Auf die Bedürfnisse eingehen
Jeder Tag verläuft anders. Aus diesem Grund müssen sich Heike Kothe-Zeiß und ihre Kollegen täglich neu auf die Bewohner und deren Bedürfnisse einstellen. "Die Demenz hat so viele Gesichter, sie verläuft nicht bei allen gleich." Die Gerontofachkraft und ihre Kollegen sind so geschult, dass sie individuell auf die Bedürfnisse der Bewohner in den verschiedenen Stadien der Demenz eingehen und entsprechend reagieren können. "Durch die kognitiven Einschränkungen können sich die Betroffenen oft nicht mehr verbal ausdrücken. Es kommt vor, dass sie sich von anderen Bewohnern oder Mitarbeitern angegriffen fühlen und sich wehren oder diese beleidigen", sagt Gisa Vetter.