Das geschenkte zweite Leben
Autor: Christiane Lehmann
Coburg, Freitag, 15. November 2013
Max-Peter Carl, einst engagierter Unternehmer und verantwortungsbewusster Arbeitgeber, führt seit seinem Gehirnschlag vor sieben Jahren ein völlig anderes Leben - glücklich und zufrieden.
Hirnschlag! Aus heiterem Himmel. Max-Peter Carl will gerade mit seinem kleinen Sohn auf dem Arm ins Schlafzimmer gehen als er so ein "komisches Gefühl im Kopf" hat. Gerade noch rechtzeitig setzt er seinen einjährigen Steppke Constantin ab, dann spürt er plötzlich seine linke Seite nicht mehr. Der Notarzt kommt. Diagnose: lebensgefährliche Hirnblutung. Vier Wochen lang liegt der 50-Jährige im Koma, ringt mit dem Tod - und siegt.
Sieben Jahre später: Strahlend öffnet Max-Peter Carl die Haustür. Er fährt mit seinem Rollstuhl vorneweg. Im Esszimmer wartet schon seine Frau Karin mit Kaffee. Der einstige Unternehmer hat sich vorbereitet, Stichpunkte gemacht, was ihm am Herzen liegt und was er gerne erzählen möchte. Er erinnert sich an eine Reportage, die ich vor fast 20 Jahren über seinen Betrieb geschrieben habe.
"Ich bin Realist und als solcher musste ich nach meinem Hirnschlag erkennen, dass ich diese Aufgaben nicht mehr erfüllen kann. Ich war gerne Unternehmer, habe gerne etwas gestaltet und Verantwortung für meine Mitarbeiter übernommen. Aber das ist vorbei!" Max-Peter Carl lebt im Jetzt. "Carpe diem" hat er sich groß notiert.
Eine neue Liebe
Zusammen mit seiner Frau Karin, die er 2007 beim Schützenfest kennengelernt hat, feiert er täglich sein "geschenktes zweites Leben". Es sei ein anderes Leben als früher, sagt er, eines mit mehr Zeit und Muße für die schönen Dinge. Dazu gehören für ihn seine Frau, die Familie, ein Spaziergang im Hofgarten, Kinobesuche, Zeitung lesen. "Ich möchte das Papier in der Hand halten."
Die meiste Zeit fühlt sich der 58-Jährige "ganz normal". Er denkt nicht ständig an all die Einschränkungen, die er hat. Immerhin ist seine komplette linke Körperhälfte gelähmt, sein Gleichgewichtssinn ist gestört und seine Wahrnehmung eingeschränkt. "Wenn jemand von links kommt, erschrecke ich ganz fürchterlich", erzählt er. Das belaste ihn - vor allem, wenn er unterwegs ist.
Aus der "Dackel-Perspektive"
Der Besuch auf dem Weihnachtsmarkt ist für ihn deshalb nicht immer ganz einfach. "Da haste eine ganz neue Dackel-Perspektive, siehst alles von unten. Was die Leute für Schuhe tragen und was für Socken. Und oben klopft Dir immerzu ein anderer auf die Schulter."
Max-Peter Carl gibt zu, dass er erst lernen musste, damit umzugehen. Trotzdem geht er nach wie vor gerne "unter die Leut'". Beim Schützenverein gibt er immer noch jedes Jahr den Königsschuss ab, bei der Narrhalla steht er als Ehrensenator alle zwei Jahre auf der Bühne. Und in der Stadt ist er mit seinem Rollstuhl auch hin und wieder alleine unterwegs. Sein Urteil über die behindertengerechte Stadt: "Der Markt ist eine Höchststrafe, am Albertsplatz ist es gut gelöst!" Max-Peter Carl ist immer noch ein politischer Mensch. Als CSU-Mitglied wünscht er sich von der OB-Kandidatin Birgit Weber eine bürgernahe Politik - offene Gespräche mit den Menschen und mit der Wirtschaft. Daraus könne sich ein gutes Programm ergeben.
Hilfe annehmen
"Ich habe keine Angst vor den Menschen. Ich lass mir helfen, wenn es sein muss und sage auch, wenn ich es lieber alleine schaffen möchte", macht Carl deutlich. Trotzdem: Er ist häuslicher geworden. Und demütig. Wichtig sei, dass man sein Schicksal annimmt und nicht verzagt. "Ich freue mich an all dem, was noch funktioniert, was ich alles machen kann." Dazu gehört unbedingt seine Leierorgel. Die hatte er sich zum 50. Geburtstag gewünscht und nach seinem Hirnschlag zugelegt. Stolz stellt er sich zum Foto - mit und ohne Zylinder - an den roten Kasten und grinst. Beim Rosenmarkt der Soroptimisten hat er auch schon öffentlich gespielt.
Wahre Freunde
Sein Freundeskreis ist geschrumpft, gibt er unumwunden zu. Die Spreu habe sich vom Weizen getrennt. "Ich hatte früher einen großen Bekanntenkreis, heute zählen nur noch die Freunde, die in Notsituationen mit Rat und Tat zur Seite gestanden haben." Nicht die, die an sein Krankenbett kamen und nur schauen wollte, "ob und wie mein Mundwinkel hängt". Das klingt ein bisschen bitter. Aber das passt nicht zu Max-Peter Carl. Gleich sagt er: "Es gibt schlimmere Schicksale als meins." Er sei eingeschränkt, aber nicht krank.
Sein neunjähriger Sohn lebt mittlerweile bei seiner Mutter in Sachsen. "Aber wir telefonieren täglich, sehen uns einmal im Monat und in den Ferien", sagt er stolz und blickt seine Frau Karin liebevoll an. "Ohne sie würde ich dieses Leben so nicht führen."