Druckartikel: Dann leben wir, als sei nichts gewesen

Dann leben wir, als sei nichts gewesen


Autor: Dr. Carolin Herrmann

Coburg, Sonntag, 06. Dezember 2015

Max Frischs (schulisches) Drama "Andorra" trifft in der Regie von Michael Götz am Landestheater Coburg gestrafft und sehr intensiv ins Heute. Vordergründige Aktualisierung aber wird uns erspart. Das Premierenpublikum war tief berührt.
Nur eine Vision, in der sich Andri wehren kann. Die Realität sieht anders aus. Andri (Benjamin Hübner) und Barblin (Sarah Zaharanski) kommen nicht davon.  Foto: Henning Rosenbusch


Ist das eine entzückende Welt. Die Menschen alle so blond und weiß gekleidet und lächeln mit strahlendem Gebiss, die Fensterlädlein ihrer niedlichen Häuslein öffnend und schließend unter dem schützenden Kirchturm und dem Läuten der Glocken. Das ist Max Frischs "Andorra" in der Coburger Reithalle, wie Ausstatter Till Kuhnert sie ausdrucksstark für die in die Seele fahrende Inszenierung von Michael Götz entworfen hat.
Nach der Premiere am Samstag dauert es eine Weile, bis sich Ensemble und Publikum aus dem Bann der Erschütterung gelöst haben. Der Gastregisseur, der bis 2013 Regieassistent hier in Coburg war, hat das wuchtige Lehrstück in eine theatrale Form gebracht, die heute noch immer oder erst Recht wieder tief berührt.

Weil die Regie von Mi chael Götz und das intensive, treffende Spiel des Schauspielensembles weit über den moralischen Lehrgehalt hinauszuführen vermögen in die Tragik der menschlichen Beziehungen und in die Frage nach der Bedeutung persönlicher Grundhaltungen.
Max Frischs verzweifelt krasse Anklage nur 15 Jahre nach dem Sturz des Nazitums gegen die "kleine" Form des alltäglichen Antisemitismus und Rassismus im sauberen Gutbürger wird in der Coburger Inszenierung allgemeingültiger. Nicht mehr allein die unter Vorurteilen verbrannten Juden, es sind jetzt generell "die", auf die man alles schieben kann, in deren Herabminderung man die eigene Person und Psyche erheben kann. Wobei Götz uns eine billige Aktualisierung etwa auf das Los heutiger Immigranten erspart.
Benjamin Hübners Andri ist einfach ein gutwilliges, hoffnungsvolles Kind, das im gnadenlosen, absurden Brandmarkungsmuster geopfert wird, durch die starre Selbst- und Ungerechtigkeit des Tischlers (Thomas Straus), die aus Egoismus geborene Menschenverachtung der eigentlich zur Menschenachtung verpflichteten Ärztin (Eva Marianne Berger), durch die viehische Gier des Soldaten (Ingo Paulick), durch die lebenslange Feigheit seines Vaters (Nils Liebscher), durch die liebende Laschheit des Paters (Niklaus Scheibli).


Gnadenlose Umformung

Liebe, die Mutter (Kerstin Hänel) kann nichts ausrichten. Und auch Barblin, Andris Geliebte, die sich als seine Schwester entpuppt (Sarah Zaharanski) kommt nicht an gegen den grausigen Prozess der Umformung Andris in das Zerrbild eines Menschen, das die Gesellschaft mit vereinten Kräften gnadenlos von ihm entworfen hat. Barblin ist ja selbst Opfer. Und Gnade ist ein ewiges Gerücht, wie es an einer Stelle bei Max Frisch heißt.
Durch kluge Straffung und Konzentrierung auf ungemein eindringliche 80 Minuten (Dramaturgie Carola von Gradulewski), durch gelegentliche geschickte gestische Überspitzung, durch sparsamen Einsatz akustischer Mittel erreicht diese Produktion eine beklemmende Atmosphäre und Intensität, die uns in unserer heutigen Angst packt. Das Brummen der Flugzeuge. Der Stiefelrhythmus marschierender Soldaten.
Am Ende putzen die guten Bürger wieder lächelnd ihr hübsches Ländchen; Schuld weisen sie weit von sich. Es hat sich nichts geändert. Nur dass vorne, unmittelbar vor dem Publikum, Andri mit einem Sack über dem Kopf steht. Der Schuss seiner Exekution verhallt.

Die Produktion Landestheater Coburg: "Andorra". Drama von Max Frisch. Inszenierung Michael Götz, Bühnenbild und Kostüme Till Kuhnert, Dramaturgie Carola von Gradulewski,

Darsteller Benjamin Hübner, Sarah Zaharanski, Nils Liebscher, Kerstin Hänel, Niklaus Scheibli, Eva Marianne Berger, Thomas Straus, Ingo Paulick.

Weitere Termine: 8., 9., 10., Dezember, 7., 8., 10. Januar, 20 Uhr in der Reithalle.