Coburg will NS-Vergangenheit aufarbeiten
Autor: Simone Bastian
Coburg, Mittwoch, 03. Juni 2015
Coburg war die erste Stadt mit einer nationalsozialistisch geführten Stadtverwaltung. Wie es dazu kam, was das bewirkte, soll nun aufgearbeitet werden. Denn erst jetzt scheint ein nüchterner Umgang mit dieser Vergangenheit möglich. Ein Gespräch mit Coburgs Oberbürgermeister Norbert Tessmer (SPD).
Die Stadt Coburg will nun darangehen, die ihre Vergangenheit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufarbeiten zu lassen. Diese Forderung ist alt, nicht erst seit dem Versuch, die Situation der Zwangsarbeiter in den Kriegsjahren in Coburg nachzuzeichnen (2005). Norbert Tessmer (SPD) versuchte zwar, als zuständiger Bürgermeister, ein Stadtmuseum auf den Weg zu bringen, aber das scheiterte letztlich an den Finanzen. Nun hat er als Oberbürgermeister die geschichtliche Aufarbeitung angeregt.
Frage: Lässt sich schon abschätzen, wie umfangreich diese Aufarbeitung der Coburger Vergangenheit werden wird?
Norbert Tessmer: Nein. Der Beschluss sagt ja nur, dass die Verwaltung Vorschläge machen soll, wie die Geschichte der Stadt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufzuarbeiten wäre, und dieser Maßnahmenkatalog ist dem Stadtrat vorzulegen. Es ist ja schon sehr viel vorhanden: die Bücher von Hubert Fromm und Harald Sandner, die Dissertation von Günther Schmehle oder die Ausstellung "Voraus zur Unzeit" von Hubertus Habel. Es ist vieles vorhanden, aber es müsste einer Gesamtbewertung unterzogen werden. Und es geht um die Frage: Warum ausgerechnet Coburg?
Hintergrund: In Coburg marschierten die Nationalsozialisten beim Deutschen Tag 1922 unter der Führung von erstmals geballt auf. Bewusst missachtete Hitler das Verbot, seine SA im Verbund und mit Marschmusik vom Bahnhof in die Stadt marschieren zu lassen. Schon damals wandte sich der vormalige Herzog Carl Eduard, der an den Veranstaltungen teilnahm, den Nazis zu. 1929 erhielten die Nationalsozialisten die Mehrheit im Stadtrat, 1931 hatte die Stadt als erste im Deutschen Reich einen nationalsozialistischen Ersten Bürgermeister. Als die Nazis 1933 im Deutschen Reich an die Macht kamen, begann in Coburg der gewaltsame Terror gegen Juden und Andersdenkende wie Sozialdemokraten, Gewerkschafter, Kommunisten. Viele wurden in der "Prügelstube" im Rathaus misshandelt. Daran erinnert inzwischen eine Gedenktafel. Norbert Tessmer kennt auch die Lebensgeschichten von Coburger Sozialdemokraten wie Christian Reichenbecher (siehe unten). Doch dazu äußern will er sich nicht.
Halten Sie es für vorstellbar, dass die Geschichte auch deshalb lange Zeit nicht aufgearbeitet wurde, weil die Coburger einfach Ruhe wollten? Es wusste ja sicherlich jeder von jedem.
Norbert Tessmer: Es ging nicht nur um Ruhe. Das ging ja bis in die Familien hinein, zum Beispiel bei mir. Meine beiden Großväter waren in der Partei, mein Großonkel hatte ein Geschäft in der Spitalgasse und Schilder im Schaufenster "Juden unerwünscht". In der Familie war das bekannt, aber man hat nicht darüber gesprochen. Und um Konflikte zu vermeiden, hat man in der Nachkriegszeit die verschiedenen Teile der Familie immer getrennt eingeladen.
Waren solche persönlichen Erfahrungen für Sie ein Grund, sich der SPD zuzuwenden?
Norbert Tessmer: Nein, das hat damit nichts zu tun. Unsere Familie war ja nicht die einzige. Ich bin als Kind bei den Freien Turnern gewesen, auch da haben manchmal die Alten erzählt: "Die einen haben halt mitgemacht, und die anderen waren in Dachau." Aber mit 13, 14 Jahren konnte ich mir keinen Reim darauf machen. Jetzt, im Nachhinein, verstehe ich manche Gespräche, die ich da in Erinnerung habe.
München hat jetzt ein Dokumentationszentrum über die Rolle der Stadt im Nationalsozialismus eröffnet. Könnten Sie sich etwas ähnliches für Coburg vorstellen?
Norbert Tessmer: Das wäre Glaskugellesen.
Man könnte darstellen, welche Brüche das verursacht hat, wie lange so etwas nachwirkt.
Norbert Tessmer: Ich möchte jetzt nicht Dinge in den Raum stellen und Erwartungen wecken, die dann nicht erfüllbar sind. Eine Lehre, die ich aus alldem gezogen habe, ist: Wir sind zwei mal drumherum gekommen. Einmal durch die Gnade der späten Geburt, einmal durch die Gnade der geographischen Geburt. Wenn die Grenze zur DDR weiter südlich verlaufen wäre - wer weiß, was aus uns dort geworden wäre.
Coburg, seine Geschichte und Geschichten
Publikationen: Oberbürgermeister Norbert Tessmer bezieht sich im Interview auf folgende Publikationen: Hubert Fromm, Die CoburgerJuden, dritte Auflage 2012; Hubertus Habel, Voraus zur Unzeit - Coburg und der Aufstieg des Nationalsozialismus (Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung 2004); Harald Sandner, Coburg im 20. Jahrhundert (undatiert); ders., Hitlers Herzog - Carl Eduard von Sachsen-Coburg und Gotha (2011); Günther Schmehle, Coburg und die Deutsche Arbeiterbewegung, Dissertation 1980.
Beispiel Günther Schmehle geht in seiner Doktorarbeit ausführlich auf die Situation in Coburg in der Zeit der Weimarer Republik ein. Seiner Darstellung zufolge waren es allein die Sozialdemokraten und die ihnen nahestehenden Gewerkschafter, die die Republik in Coburg verteidigten - auch gegen die Nationalsozialisten, die in der Stadt schon früh die Oberhand gewonnen hatten.
Christian Reichenbecher war vor 1933 SPD-Vorsitzender in Coburg und Gewerkschaftssekretär. Erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs, im Mai 1945, konnte er vor den Behörden schildern, wie es ihm am 10. März 1933 erging. Er wurde festgenommen, zunächst in der ehemaligen Kaserne inhaftiert und am 23. März ins Rathaus gebracht und drei Tage lang mit Schlägen und Tritten gefoltert. Bei seiner Entlassung am 7. April 1933 musste er unterschreiben, dass er gut behandelt worden sei. Außerdem wurde ihm gedroht, dass er auf "Nimmerwiedersehen" im Konzentrationslager verschwände, sollte er sich öffentlich über seine "Schutzhaft" äußern. Um sein Leben zu retten, trat Reichenbecher noch 1933 in die SA-Reserve einund schloss sich 1937 sogar der NSDAP an. Er galt aber als unzuverlässig und wurde 1944, nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler, erneut von der Gestapo verhaftet.
Wegen seiner Mitgliedschaft in NS-Organisationen und weil er 1933 auf Wahlveranstaltungen für die NSDAP geworben hatte, musste er sich nach Kriegsende wie einem Spruchkammerverfahren unterziehen, um zu klären, inwieweit er die Nazis unterstützt hatte. Die Verhandlung fand am 8. August 1947 statt. Zeugen sagten aus, dass jeder gewusst habe, dass Reichenbecher nur so seinen Kopf aus der Schlinge habe ziehen können und er immer seine antifaschistische Haltung betont habe. Reichenbecher wurde von der Spruchkammer als "Mitläufer" eingestuft.