Coburg und die Substanz der Wolken
Autor: Dr. Carolin Herrmann
Coburg, Dienstag, 26. April 2016
Ob Eva Gesine Baur oder Lea Singer - zwei Autorinnen in einer Person waren in St. Augustin auf der akribischen Suche nach Mozart, Goethe und Friedrich.
Ob sie selbst ein Genie sei? Man könnte es meinen angesichts der Vielzahl und der Intensität ihrer Werke, auch der Klarheit, mit der sie antwortet. Ein Schriftstellername reicht dafür gar nicht aus. Tatsächlich scheinen zu diesem zweiten Abend der 13. Coburger Literaturtage auch zwei Autorinnen in den großen Saal von St. Augustin geladen, die Sachbuchautorin Eva Gesine Baur und die Romanautorin Lea Singer. Was aber nur ein Trick war.
Die promovierte Kulturhistorikerin lässt sich zwar begeistern für die "Poesie des Faktischen", was sie eben wieder zum Verfassen einer hochgelobten Biografie brachte, Mozarts nämlich. Aber irgendwann trieb es sie doch weiter. Um aus Briefen und Originalquellen den möglichst authentischen Ton einer historischen Gestalt zu extrahieren, musste sie das Literarische, das Fiktionale wagen, ohne den Boden der nachprüfbaren Tatsachen zu verlassen. Wovor sie riesiges Muffesausen hatte.
Da verwandelte sich Eva Gesine Baur in die Romanschreiberin Lea Singer. Und hatte dabei seit dem Jahr 2000 mindestens genauso viel Erfolg. Als das Rätsel um das Pseudonym damals gelüftet war, hielt ihr Verlag am Zweitnamen fest. Na bittschön, sagte da die schöne Blonde, und ging unbeirrt auf beiden Wegen weiter.
Mozart log und betrog
Bis sie schriftstellerisch bei Mozart war, den die offensichtlich Hochbegabte schon im Vorschulalter zu verehren begonnen hatte. In dem vollkommen "verminten" Feld der Mozartforschung und des irrsinnigen Spezialistentums störte es sie, dass für die offensichtlichen Miesheiten und charakterlichen Schwächen des Genies Mozart immer Sündenböcke herbei gezerrt wurden, Vater Leopold, die Konstanze, der Salieri. Dabei log Mozart von sich aus so schamlos, intrigierte und betrog, dass jede weitere Erklärung Humbug ist. Wie der kleine hässliche Kerl aber mit seiner Musik den Himmel berührt und bis heute dessen Energien unmittelbar in uns hinein leitet, das faszinierte Eva Gesine Baur so sehr, dass sie sich selbst auf die akribische Suche nach dem Stoff machte, der "Genius und Eros" des Wolfgang Amadé befeuerte.Das alles erfuhr man am Montagabend im aufschlussreichen Gespräch, das Irmgard Clausen und Alois Schnitzer vom Organisationsteam der Coburger Literaturtage mit Eva Gesine Baur führten.
Sie kratzt am Lack
Sie also auch selbst ein Genie? Die Frau steht sogar auf hochstöckeligen Plateauschuhen fest auf dem Boden. "Ich bin eine fleißige Arbeiterin", antwortet sie mit massivem Unterton, der nicht bescheiden tut. Betrachtet man die ungeheuren Mengen erforschter Materialien - allein ihre Mozartbiografie umfasst einen Anhang von 180 Seiten - ist das aber für das Normalexemplar von Mensch womöglich noch viel einschüchternder. Wie unbeirrt von den Mythen Eva Gesine Baur den eigentlichen Menschen hinter der Heroenfassade nahe kommt, am gepflegten Lack der Jahrhunderte langen Verehrung kratzt, das führte sie als Lea Singer bei der höchst vergnüglichen Lesung aus ihrem neuen Roman "Anatomie der Wolken" im zweiten Teil des Abends vor.
Bis Goethe Übles tat
Da gehen wir mit einem höchst misslichen, alternden, selbstgefälligen Geheimrat von Goethe ein Stück weit des Weges, als ihn 1812 der ältere Humboldt in Karlsbad besucht. Was es da auf wenigen Seiten schon zu erfahren gibt an historischen Zusammenhängen, Zeitstimmungen, Menschlichkeiten, die damals wie heute klingen... Wie Lea Singer da den Tonfall trifft, im Roman und beim Vorlesen in Coburg... Wenn der zwanzig Jahre jüngere Humboldt dem sich längst eigens zum unsterblichen Standbild gemeißelten Goethe in dessen eitler Selbstverehrung hinwirft, jeder könne jeder Zeit abstürzen aus großer Höhe...(Ha, das hat der Goethe nun davon, dass er uns in der Schule so plagte. Aber das gehört nicht hierher.)Eigentlich geht es in "Anatomie der Wolken" um eine äußere wie innere Begegnung Goethes mit dem jungen, so konträren Romantiker Caspar David Friedrich, bei der sich die beiden über das Thema Wolken zerstritten, bis der gute Goethe tatsächlich ganz Übles tat. Und dass Wolken heute, physisch und metaphysisch, erst Recht auf viel mehr verweisen als auf Nebulöses, macht überhaupt den Ursprung von Eva Gesine Baurs Forschungsdrang aus.
Die in Coburg vorgelesene Humboldt-Episode, die war aber auch sehr schön. Und wenn es doch so ist, dass Eva Gesine Baurs Werke ungemein kenntnisreich und akribisch faktengeleitet sind - was sie von den Massen an heutigen Historienschreibern abhebt - dann kann man eigentlich bei ihr reingucken, wo man will.
Die Autorin Eva Gesine Baur, geboren 1960, studierte in München Kunstgeschichte, Literaturwissenschaften, Musikwissenschaft und Gesang. Sie promovierte 1984 im Fach Kunstgeschichte. Sie schrieb unter anderem Sachbiografien über Charlotte Schiller, Frédéric Chopin, Emanuel Schikaneder.
Unter ihrem Pseudonym Lea Singer verfasst sie Romane, die sich mit Persönlichkeiten und Begebenheiten der Kulturgeschichte befassen. "Die Zunge" (2000) erzählt vom Erfinder der Gourmet-Kritik ,Grimod de La Reynière, "Wahnsinns Liebe" (2003) von einer in Briefen und Zeitzeugenberichten dokumentierten tragischen Dreieckgeschichte zwischen Mathilde Schönberg, deren Mann Arnold Schönberg und dem jungen Maler Richard Gerstl, " Konzert für die linke Hand" (2008) vom Schicksal des Pianisten Paul Wittgenstein.
Eva Gesine Baur: Mozart. Genius und Eros. Eine Biographie. C.H.Beck-Verlag, 565 Seiten, 24,95 Euro.
Lea Singer: Anatomie der Wolken. Roman. Hoffmann und Campe, 255 Seiten, 20 Euro.