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Coburg erforscht seine Geschichte


Autor: Simone Bastian

Coburg, Mittwoch, 17. Mai 2017

Eva Karl soll ergründen, warum und wie sich Coburg in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer Nazi-Hochburg entwickelte.
Eva Karl


Eva Karl hat ihre Arbeit schon aufgenommen: Die einschlägige Literatur gesichtet, die aktuelle Forschungslage und die Quellenlage sondiert. Sie wird im Auftrag der Stadt die Geschichte Coburgs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erforschen. Dieses sehr weite Feld ist freilich eingegrenzt: Der eine Schwerpunkt wird auf den Jahren 1929 bis 1933 liegen, als die Nationalsozialisten es schafften, sich in Coburg als politisch prägende Kraft zu etablieren. Sie stellten mit Franz Schwede ab 1931 den Oberbürgermeister, schon 1929 hatten sie die Mehrheit im Stadtrat errungen - so früh wie in keiner anderen deutschen Stadt. Der zweite Schwerpunkt wird auf den Jahren 1933 bis 1945 liegen und in einzelnen Fragestellungen über das Jahr 1945 hinausreichen.

Gesetzt wurde dieser Rahmen von einer siebenköpfigen Historikerkommission unter dem Vorsitz des in Coburg lebenden Professors Gert Melville, selbst Spezialist fürs Mittelalter. In der Kommission selbst sitzen namhafte Spezialisten der jüngeren und der Zeitgeschichte: Professor Andreas Wirsching zum Beispiel, Leiter des Instituts für Zeitgeschichte, bei dem Eva Karl auch angestellt ist. Ihr Arbeitsplatz befindet sich jedoch im Coburger Stadtarchiv. Finanziert wird ihre Arbeit von der Stadt Coburg. 406 000 Euro sind für das Forschungsprojekt veranschlagt, verteilt auf vier Jahre.

Eva Karl hat Erfahrung mit dem Thema: Die gebürtige Dinkelsbühlerin schrieb ihre Doktorarbeit über "Zusammenbruch, Umbruch, Aufbruch: Ländliche Gesellschaft zwischen Ende und Anfang. Stadt und Landkreis Dinkelsbühl 1943 bis 1948". 2012 bis 2016 war sie damit beschäftigt. In Dinkelsbühl sei sie mit diesem Thema auf großes Interesse gestoßen, sagt sie. "Es gab ein Bedürfnis, darüber zu reden."

Nun soll sie den "nationalsozialistischen Komplex am lokalen Beispiel" Coburg erklären. "Das bearbeiten zu dürfen ist eine große Ehre." Es ist vor allem eine umfangreiche Aufgabe: Nicht nur Stadt- und Staatsarchiv in Coburg, sondern auch andere in Bayern und im Bund beherbergen wichtige Unterlagen. Auch das Haus Sachsen-Coburg und Gotha hat seine Unterstützung zugesagt. Eva Karl hofft, dass sie von Coburgern weitere Tagebücher, Fotos oder andere Dokumente aus dieser Zeit erhält, die bislang noch nicht erforscht wurden. "Da können erstaunliche Sachen rauskommen", meint Melville. Denn das Spannende an der Forschung sei ja, dass man im Vorhinein nicht wisse, was die Quellen in Archiven oder aus Privatbesitz offenbaren.

Welche Bedingungen dazu beitrugen, dass die Nationalsozialisten in manchen Regionen schneller Fuß fassten als in anderen, ist bekannt, sagt Andreas Wirsching, Leiter des Instituts für Zeitgeschichte. Der Verlust der Eigenstaatlichkeit, das Nachwirken der Monarchie, die Haltung der Kirchen - all das liefere auch Erklärungen für Coburg. Doch wie genau die Entwicklung in Coburg verlief, wie sich der Nationalsozialismus in der Stadt schließlich ausprägte, wie er die Gesellschaft durchdrang, darüber seien nun neue Erkenntnisse zu erwarten. "Wir werden uns mit Menschen beschäftigen", betont Gert Melville, denn "Menschen machen die Geschichte".

Die Archive werden Eva Karl offenstehen, versicherte Margit Ksoll-Marcon, Generaldirektorin der staatlichen Archive Bayerns. Denn für Forschungszwecke können noch laufende Sperrfristen auf Akten auch aufgehoben werden. Sie gehört der Kommission genauso an wie Michael Stephan, Leiter des Stadtarchivs München und Vorsitzender des Verbands bayerischer Kommunalarchivare.


Hintergrund

Anlass Was bedeutete es, in Coburg der NSDAP anzugehören? Diese Frage kam im Frühjahr 2015 in die öffentliche Diskussion, als der Stadtrat die Von-Schultes- in Max-Brose-Straße umbenannte. Der Industrielle war Mitglied der Nazi-Partei gewesen; sein Unternehmen beschäftigte Zwangsarbeiter. Doch inwieweit Max Brose sich persönlich schuldig gemacht hatte, blieb umstritten - auch, weil es bislang keine umfassende Forschungsarbeit darüber gibt, wie das Leben in Coburg im Nationalsozialismus war. Bekannt ist zum Beispiel, dass im Frühjahr 1933, als die Nazis auch im Deutschen Reich an die Macht gekommen waren, in Coburg willkürlich Juden, Sozialdemokraten und Kommunisten von den Nazis gefoltert wurden.

Stadtrat Der Beschluss, die Geschichte Coburgs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wissenschaftlich aufarbeiten zu lassen, fiel am 21. Mai 2015. In der gleichen Sitzung entschied der Stadtrat, die Von-Schultes-Straße umzubenennen.

Streitfrage Der Grundsatzbeschluss, die Coburger Geschichte aufarbeiten zu lassen, erfolgte noch einstimmig. Doch als es einige Monate später darum ging, das erforderliche Geld zu bewilligen, stimmte die CSU/JC-Fraktion dagegen.