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Blaue Flecken, leere Blicke - was steckt dahinter?


Autor: Christiane Lehmann

Coburg, Sonntag, 25. Oktober 2015

Coburg ist keine Insel der Glückseligen - Kinder werden auch hier geschlagen und missbraucht. Erzieher und Lehrer haben eine Meldepflicht. Das Jugendamt sucht die Zusammenarbeit mit den Eltern.
Symbolfoto: dpa


Carla hat an den Beinen und Oberarmen jede Menge blauer Flecken. Auf die Frage, woher die denn stammen, antwortet sie kurz, sie sei gestürzt. Ihre Lehrerin hat ein komisches Gefühl: Nach einem Sturz sehen die dunklen Stellen an ihrem Körper nicht aus. Carla ist in den letzten Wochen auch sehr ruhig und passt im Unterricht nicht auf. Was könnte da dahinterstecken? Wird das Kind vielleicht zu Hause geschlagen? - Fragen, die sich die Grundschullehrerin stellen muss. Sie bittet ihre Kollegen, auf Carla zu achten: Fällt auch ihnen etwas an dem Mädchen auf? Haben sie auch eine Veränderung bei ihr bemerkt?
Die Lehrerin entscheidet sich dazu, das Jugendamt anzurufen. Irgendetwas stimmt bei Carla zu Hause nicht.

Liegt eine mögliche Kindswohlgefährdung vor, dann haben Fachkräfte eine Meldepflicht.


Verpflichtet zum Handeln

Im Klartext: Wenn ein Kind ungewöhnliche Verletzungen aufweist, apathisch, hungrig oder distanzlos gegenüber Erwachsenen ist, wenn ein Kind stark entwicklungsverzögert ist, sollten Pädagogen aufmerksam bleiben. "Wir sind verpflichtet, solchen Hinweisen nachzugehen", sagt der Leiter des Amtes für Jugend und Familie, Reinhold Ehl. Der Verdacht einer Kindswohlgefährdung - vor allem, wenn er von einer Lehrkraft, der Erzieherin oder vielleicht auch dem Trainer, geäußert wird - sei immer ernst zu nehmen. 34 solcher Meldungen sind 2014 beim städtischen Jugendamt eingegangen, bis 31. August dieses Jahres waren es 21. "Das heißt noch lange nicht, dass tatsächlich eine Kindswohlgefährdung vorliegt", beteuert Ehl. Aber dem Fall werde nachgegangen. Grundsätzlich sei es deutschlandweit so, dass etwa ein Drittel der Fälle dem Amt bereits bekannt sind, bei einem Drittel handle es sich um Verleumdungen und einem Drittel müsse besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden, weil sie brisant sind.


"Mittelstandsverwahrlosung"

Im vergangenen Jahr musste das Jugendamt in fünf Fällen einschreiten. Entweder es kommt zum "Teilentzug der elterlichen Sorge", wie Ehl es nennt. Oder das Kind kommt zu einer Pflegefamilie oder wird in einer stationären Einrichtung untergebracht - je nachdem, wie es dem Kind geht.
Coburg ist kein weißer Fleck auf der Landkarte der Kindesmisshandlung. Quer durch alle Schichten geht es auch hier um sexuellen Missbrauch, um körperliche oder seelische Gewalt, auch Nahrungsentzug oder Vernachlässigung durch unpassende Kleidung oder schlechte Hygiene kommen vor. Ehl spricht auch von der so genannten Mittelstandsverwahrlosung, bei der Kinder den größten Teil des Tages auf sich allein gestellt sind und keine Mahlzeit mehr zusammen mit den Eltern einnehmen. "Dabei gehen Grundregeln des Zusammenlebens verloren. Gemeinsames Kochen und Essen zum Beispiel, das Gespräch und Umgangsformen am Tisch", ist sich Ehl sicher.


Niemals leichtfertig

Doch der Amtsleiter legt Wert auf die Feststellung, dass die Entscheidung, ein Kind aus der Familie zu nehmen, niemals leichtfertig getroffen wird und auch niemals die Entscheidung eines Einzelnen ist. Das letzte Wort hat der Familienrichter, der sich vor seinem Urteil auch beide Seiten anhört.


Zusammenarbeit mit den Eltern

"Schlechte Eltern sind besser als keine Eltern - es sei denn, ein Kind nimmt Schaden", sagt Ehl und weiß, dass er damit durchaus provoziert. Deshalb setzt das Jugendamt auch auf Zusammenarbeit mit den Eltern. Freiwilligkeit und Einsicht sind die Voraussetzungen dafür. Und in neun von zehn Fällen gelingt es auch, gemeinsam mit Mitarbeitern des Jugendamts die Situation zu Hause für das Kind zu verbessern. "Meist sind die Eltern (oft auch allein erziehende Mütter) nur überfordert und brauchen etwas Hilfestellung", sagen die Jugendamtsmitarbeiter. Manche Mütter seien sogar froh, dass sie Unterstützung bekommen. Das kann ein Erziehungsbeistand sein oder die sozialpädagogische Familienhilfe, die lebenspraktische Übungen mit den Eltern/Müttern macht, auch Beratungsgespräche können die Situation verbessern.


Maßnahmen zur Vorbeugung

Coburg bietet eine ganze Reihe von Präventionsmaßnahmen an, damit es erst gar nicht so weit kommen muss. Mit dem Elterntalk, den Kursen "Starke Eltern - starke Kinder", dem Netzwerk "Stadtteilmütter" in Wüstenahorn, dem Frauenfrühstück und dem Eltern-Kind-Café sei die Stadt hervorragend aufgestellt.



§ 8a - Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung
Kindswohlgefährdung
(1) Werden dem Jugendamt gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen bekannt, so hat es das Gefährdungsrisiko im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte einzuschätzen. Soweit der wirksame Schutz dieses Kindes oder dieses Jugendlichen nicht in Frage gestellt wird, hat das Jugendamt die Erziehungsberechtigten sowie das Kind oder den Jugendlichen in die Gefährdungseinschätzung einzubeziehen und, sofern dies nach fachlicher Einschätzung erforderlich ist, sich dabei einen unmittelbaren Eindruck von dem Kind und von seiner persönlichen Umgebung zu verschaffen. Hält das Jugendamt zur Abwendung der Gefährdung die Gewährung von Hilfen für geeignet und notwendig, so hat es diese den Erziehungsberechtigten anzubieten.

(2) Hält das Jugendamt das Tätigwerden des Familiengerichts für erforderlich, so hat es das Gericht anzurufen; dies gilt auch, wenn die Erziehungsberechtigten nicht bereit oder in der Lage sind, bei der Abschätzung des Gefährdungsrisikos mitzuwirken. Besteht eine dringende Gefahr und kann die Entscheidung des Gerichts nicht abgewartet werden, so ist das Jugendamt verpflichtet, das Kind oder den Jugendlichen in Obhut zu nehmen.

(3) Soweit zur Abwendung der Gefährdung das Tätigwerden anderer Leistungsträger, der Einrichtungen der Gesundheitshilfe oder der Polizei notwendig ist, hat das Jugendamt auf die Inanspruchnahme durch die Erziehungsberechtigten hinzuwirken. Ist ein sofortiges Tätigwerden erforderlich und wirken die Personensorgeberechtigten oder die Erziehungsberechtigten nicht mit, so schaltet das Jugendamt die anderen zur Abwendung der Gefährdung zuständigen Stellen selbst ein.