Antigone: Blut fließt aus dem Eigen-Sinn
Autor: Dr. Carolin Herrmann
Coburg, Sonntag, 15. Januar 2017
Mit voller Wucht bringt das Landestheater Coburg Sophokles' "Antigone" auf die Bühne. Konstanze Lauterbach erzählt eine gewaltige Geschichte.
Sie steigen aus den Gräbern. Das Blut rinnt immer noch und wieder an ihnen herab. Antigone und ihre Geschwister Ismene, Polyneikes, Eteokles, ihre Mutter Iokaste. Hinter allem verzerrt, mit ausgelöschten Augen, aus denen auch immer weiter das Blut fließt, Ödipus. Und dann Kreon, der neuere Mensch, der versucht zu entkommen und eine neue Staatsform schaffen will, aber ebenso stecken bleibt in der Habsucht und Selbstüberhebung des Menschseins. Sie sind Untote, seit Tausenden von Jahren. Weil wir nichts lernen. Weil immer, wenn die von den "alten Griechen" mahnend aufgezeigte "Besonnenheit" aufzuscheinen beginnt, wieder einer daher kommt und mit markigen Sprüchen darüber hinweg schreit. Erbarme dich, mein Gott. Bach. Matthäuspassion. Leise und voll Schmerz.
Doch eine Spur von Hoffnung lässt uns diese grandiose, zwischen zeitloser Erhabenheit und berührender Menschlichkeit treffende Schauspielproduktion des Landestheaters Coburg, diese mit voller Wucht zuschlagende "Antigone"-Darstellung von Gastregisseurin Konstanze Lauterbach: Die Toten kriechen doch wieder aus ihren Gräbern, Gott, welchen Göttern auch immer sei Dank. Müde zwar, doch untot versuchen sie weiterhin, den schwarzen Staub des menschlichen Verhängnisses hinweg zu blasen. Sie haben dazu nichts als ihren Atem.
Den Atem des antiken Dramas entfesselt Konstanze Lauterbach in ihrer eigenen, ungemein packenden Fassung von Sophokles, der sie Szenen aus den "Phönizierinnen" von Euripides vorangestellt hat. So verstehen wir die Vorgeschichte, die Zusammenhänge, wenn dann Antigone als Vertreterin des alten Familienrechts und Kreon als moderner Staatsschöpfer in ihren jeweils absolut gesetzten Rechtsformen aufeinander treffen. Als maßlos werden sie uns beide gezeigt, "ichichichich" brüllend, von Anne Rieckhof und besonders von Nils Liebscher darstellerisch grandios und in erschütternder Haltung verkörpert.
Es ist eben diese überzeitliche "Haltung", die Konstanze Lauterbach vom ersten Moment an auf der Bühne etabliert. In ihr steigen alle Schauspieler auf zu einem künstlerischen Format, in dem wir die menschlichen Typen erkennen und in dem uns ihre Menschlichkeit gleichzeitig ungemein nahe geht. Sarah Zaharanski als kleine, schwächere Schwester Ismene, Frederik Leberle als betrügerischer, dabei angstvoller Eteokles, Thorsten Köhler als wütender Angreifer Polyneikes, Dorothea Arnold als in ihrer Muttermacht verlierende Iokaste, Oliver Baesler als rückhaltlos liebender Haimon, der die Kraft findet, den Tyrannenvater zu entlarven, sie ziehen uns hinein nicht nur in die archaische Generationenfolge, sondern in die zwischen Liebe und Eigensucht zerreißenden familiären Beziehungen. Den kommentierenden antiken Chor geben geschickt eingesetzt Niklaus Scheibli und Jörg Zirnstein (alternierend mit Thomas Straus).
Ein mächtiger Bühnenraum
Dabei ist es die verständliche Übersetzung von Peter Krumme, die uns unmittelbar verstehen lässt und gleichzeitig enthebt in dem rhythmisierten Sprachfluss voller philosophisch konzentrierter Sprachbilder, die Sophokles in überzeitlicher Gültigkeit wie gemeißelt hat. Der innere Gehalt, den Konstanze Lauterbach so mächtig und plötzlich auf der Bühne klarzustellen vermag, wird getragen vom wirkungsvollen Bühnen-Kunstraum Ariane Salzbrunns. Vor dem Blut weinenden, als Prinzip in Strichzeichnung übermächtig präsenten König Ödipus sind es die vielen Wannen als nicht ruhen lassende Gräber, die Ausgangsort und Endstationen der Ereignisse, der Lebensversuche, sind.
Konstanze Lauterbach selbst hat zudem die Figuren in ihren Kostümen so gezeichnet, dass wir in Schnitt und Bögen, Bändern, Löchern, herrschaftlichen Verzierungen und Stoffmengen hängen bleiben und den Charakteren nachforschen. Die Farben sind über alle Figuren verteilt, das Blutrot von Liebe, Macht(anmaßung) und Mord, das Schwarz des Verhängnisses und des Todes und das wenige Weißliche, das durchaus auch die Gräberwannen zu Sinnbildern der Hoffnung machen könnte. Und das alles wird klanglich verbunden durch die atmosphärisch verstärkende Bühnenmusik von Achim Gieseler, zwischen Bach, Michael Nymann und Elektrosound in Vergangenheit und Zukunft führend.
"Viel Ungeheures ist, doch nichts Ungeheureres als der Mensch." Das uns spüren zu lassen, vermag diese konzentrierte Coburger Produktion, die dabei zu jener Art von Theater gehört, aus der wir gestärkt, mit geklärtem Sinn hinausgehen. Und "die Welt" trotzig, vielleicht, ein bisschen besser machen wollen. Und sei es nur, indem wir für kurze Zeit gegen das dem Menschen eigene Verhängnis - atmen.
Landestheater Coburg Antigone. Tragödie nach Sophokles. Fassung von Konstanze Lauterbach mit Motiven aus "Die Phönizierinnen" von Euripides. Inszenierung, Kostüme Konstanze Lauterbach, Bühne Ariane Salzbrunn, Bühnenmusik Achim Gieseler, Dramaturgie Carola von Gradulewski
Darsteller Anne Rieckhof, Sarah Zaharanski, Nils Liebscher, Oliver Baesler, Frederik Leberle, Thorsten Köhler, Dorothea Arnold, Jörg Zirnstein, Niklaus Scheibli. Thomas Straus
Weitere Termine 19., 26., 31. Januar, 19.30 Uhr im Großen Haus.