Ansichten eines Grenzgängers
Autor: Simone Bastian
Coburg, Montag, 15. August 2016
"Ich hau dann mal ab": Lutz Naumann, Fotograf der Kunstsammlungen auf der Veste Coburg, ist die innerdeutsche Grenze entlang geradelt.
Abhauen, rübermachen: Das waren die Worte, die "drüben" benutzt wurden, aus Coburger Sicht. Wem hier etwas nicht passte, hörte "dann geh doch nüber!" Eine Grenze trennte die deutschen Staaten, dicht und gefährlich, und es war eine Systemgrenze: Hier herrschten Freiheit, Demokratie und Kapitalismus, drüben der real existierende Sozialismus, der - nach Überzeugung der "Hüberen" - mit Freiheit und Demokratie wenig am Hut hatte, auch, wenn sich der Staat "Deutsche Demokratische Republik" nannte.
1990 trat diese DDR der Bundesrepublik bei, weil der Wille des Volkes nach Freiheit(en) im Herbst 1989 übermächtig geworden war. Für Lutz Naumann bedeutete das neue Chancen. Mit 28 Jahren war er mit seiner jungen Familie nach Neuhaus am Rennweg gezogen, "um an eine Wohnung ranzukommen". Die waren Mangelware in der DDR. Naumann arbeitete als Entwicklungsingenieur bei der Mikroelektronik.
Zunächst selbstständig
Naumann machte noch einmal eine Lehre und sein Hobby zum Beruf. Danach machte er sich als Fotograf selbstständig, war mit Großbildkamera und Studiolicht unterwegs. Doch die Digitalfotografie setzte dem ein Ende. Naumann hätte in neue teure Kameras investieren müssen, und das war ihm dann doch zu viel. Er sah sich nach Stellenangeboten um und kam so in die Kunstsammlungen. Auch hier standen Modernisierung und Digitalisierung an.
Inzwischen fotografiert er nur noch digital und setzt die Schätze der Kunstsammlungen ins rechte Licht. Seinem Hobby blieb er treu: 2013 legte er ein Buchüber den neugotischen Bebauungsring in Coburg vor.2015 gönnte Naumann sich eine Auszeit, weil er die ehemalige Grenze per Rad bereisen wollte. 2015 war die Vereinigung gerade 25 Jahre her, der Zeitpunkt schien ihm günstig. 100 Tage war er mit dem Rad unterwegs, sammelte Eindrücke, Fotos und Geschichten. "Ich wollte wissen, wie man jetzt darüber denkt" - über die Zeit der zwei deutschen Staaten, über die Grenze, über die Zeit seit 1989.
Unterschiedliche Perspektiven
"Mindestens 50" kleine und größere Grenzmuseen hat er auf seinem Weg besucht, hat die Relikte der Grenze fotografiert und die
Kunst, die da mancherorts hingesetzt wurde. Viele Grenzmuseen würden die ganze Geschichte aus westlicher Sicht betrachten, Zahlen auflisten, sagt er: So viel kostete der Zaun, so viele Soldaten waren im Einsatz, so funktionierte die Technik. "Die Leute kamen eher selten darin vor." Er hat auch kleine Museen gefunden, die das alles aus der Sicht "des kleinen Soldaten" schildern. Naumann absolvierte seinerzeit die 18 Monate Wehrpflicht an der Grenze zur Tschechoslowakischen Republik. "Ein Grenzschütze wollte ich nicht werden."
Keine Wahrheiten
So schildert sein Buch verschiedene Sichtweisen, aber keine Wahrheit. Denn was ist wahr? Lutz Naumann erzählt in seinem Buch die Geschichte von Michael Gartenschläger. Der protestierte als Jugendlicher in der DDR dagegen, dass Berlin 1961 abgeriegelt wurde, kam in Haft, wurde von der Bundesrepublik freigekauft und war dann als Fluchthelfer aktiv.
Unter Lebensgefahr demontierte er eine Selbstschussanlage von der innerdeutschen Grenze, doch in Westdeutschland wollte niemand diese Maschinerie offiziell zur Kenntnis nehmen, vermutlich aus politischem Kalkül. Am Schluss sah sich Gartenschläger im Niemandsland - hier ignoriert, dort ein Verbrecher. Er starb 1976 beim dritten Versuch, eine Selbstschussanlage abzumontieren, erschossen von einem Sonderkommando.Fast alle Geschichten, die Naumann zu seinen Fotos notiert, erzählten von einem Zwiespalt, einem Sowohl-Als-Auch. Die Bilder dazu wirken nur auf den ersten Blick eindeutig: Was lauerte einst in dieser scheinbar friedlichen Landschaft, welche Geschichte erzählt die Skulptur des Deserteurs beim ehemaligen Grenzübergang Eußenhausen? Seltsam verstörend wirken die beiden Kalaschnikows an der Wand über dem Empfang im Grenzlandmuseum Schnackenberg.
Auch das ist kalkuliert. "Fotos haben nie die Wahrheit gezeigt", sagt Naumann, und sei es, weil sie nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit wiedergeben. Die Maschinengewehre hängen an der Wand, das ist richtig. Aber stechen sie dem Besucher so ins Auge wie dem Betrachter des Bildes? Gewissheiten gibt es nie. "So ist mein Fotografieren gemeint", sagt Naumann. "Man soll die Augen aufmachen."
Das Buch ist kein Reiseführer, eher eine Reisebegleitlektüre. Naumann verzichtet auf Karten oder Servicetipps. Nicht zu jedem Foto gibt es eine Geschichte. Auf den hinteren Seiten sind Bilder versammelt, die es nicht verdient hätten, ausgelassen zu werden. Die Geschichten dazu werden sich finden.