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Als der Ruf "Wir sind das Volk" auch Sonneberg erreichte


Autor: Oliver Schmidt

Neustadt bei Coburg, Donnerstag, 13. November 2014

Die Nachbarstädte Neustadt und Sonneberg gedachten der Grenzöffnung vor 25 Jahren. Bei der Festveranstaltung im Gesellschaftshaus konnte auch eine alte Tugend aus DDR-Zeiten unter Beweis gestellt werden: Gegen Mangel helfen Engagement und Kreativität.
Kerzen als stilles Zeichen des Protests; das Foto ist in der Ausstellung im Sonneberger Gesellschaftshaus zu sehen.


Musik kennt sowieso keine Grenzen. Und Musik war auch das verbindende Element, als Mittwochabend im Sonneberger Gesellschaftshaus des 25. Jahrestags der Grenzöffnung nach Neustadt gedacht wurde. Manchmal kam richtig Gänsehaut auf - etwa, als die Frauen der A-capella-Gruppe "Bebos" die Ost-Ballade "Als ich fortging" sangen: "Nichts ist unendlich, was keiner recht will", heißt es da, "nichts ist unendlich".

Die Gesellschaft der Musikfreunde Neustadt spielte unter anderem den Marsch "Die Welt ist schön" sowie ganz am Ende der Festveranstaltung auch die deutsche Nationalhymne. Obwohl mehr als 200 Gäste anwesend waren, wurde der Text allerdings nicht so richtig kräftig mitgesungen. Das muss aber kein schlechtes Omen sein. Vielleicht hatten manche einfach noch einen Kloß im Hals. Denn als die Sonneberger Bürgermeisterin Sibylle Abel (CDU) die bewegenden Tage vom November 1989 in Erinnerung rief, ging das vielen sehr nahe.

"Diese Tage gehören zu den prägenden Erlebnissen einer ganzen Generation", sagte sie, "diese Tage haben unser Leben verändert."


Der Stadt fehlte es an Farbe

Sehr offen beschrieb Sibylle Abel den Zustand Sonnebergs unmittelbar vor dem Mauerfall. "Keiner musste Hunger leiden", stellte sie klar, um dann mit einem "aber" eine schonungslose Aufzählung zu beginnen: "Wir mussten 15 Jahre auf ein Auto warten, Wohnungen gab es nur für Verheiratete und Baustoffe konnte man sich nur mit Beziehungen ergattern." Der Stadt Sonneberg habe es damals an Farbe gefehlt, aber auch an so elementaren Dingen wie ordentlichen Straßen und Gehsteigen oder funktionstüchtigen Dachrinnen. Und über allem lag der Duft von Braunkohle. "Wir haben das ja schon gar nicht mehr wahrgenommen", gab Sibylle Abel zu, "aber wir sind dann von den Menschen, die von ,drüben' zu uns kamen, wieder darauf aufmerksam gemacht worden, wie unangenehm das riecht!"

Sibylle Abel sprach auch das "ständige Bewachtsein" an, und sagte: "Die Menschen sehnten sich nach Freiheit!" Nach den ersten großen Demos in Leipzig habe es zwar ein paar Tage gedauert, bis der Ruf "Wir sind das Volk" auch Sonneberg erreichte. Doch dann folgten auch hier Friedensgebete und Demonstrationen. Am 4. November 1989 etwa gingen 1200 Menschen auf die Straßen der Spielzeugstadt.

Und dann kam der 9. November, der die Welt, Deutschland und auch Sonneberg verändern sollte. Am 12. November wurde an der "Gebrannten Brücke" auch ein Grenzübergang nach Neustadt geöffnet. "Gigantisch, was sich da abspielte", schwärmt Sibylle Abel noch heute. Die Neustadter servierten heißen Tee, denn es war ein kalter Tag: "Aber die Kälte machte uns nichts aus. Wildfremde Menschen lagen sich in den Armen. Und zum ersten Mal in unserem Leben sahen wir unsere Nachbarstadt."

Zeitsprung, 2014: "Sonneberg hat seine Entwicklungschance genutzt", bilanzierte die Bürgermeisterin zufrieden. Die meisten Spuren von "baulicher Vernachlässigung aus DDR-Zeiten" seien verschwunden, und auch wirtschaftlich stehe man gut da. Das konnte der ehemalige Innen- und Wirtschaftsminister Franz Schuster, der als Festredner ins Gesellschaftshaus geladen war, nur bestätigen: "Wir wissen, dass wir noch nicht am Ziel sind. Aber wir haben bereits ein beachtliches Zwischenergebnis erzielt - in Thüringen allgemein, und insbesondere im Kreis Sonneberg. Es ist in der Tat beachtlich: Bei der Betriebsdichte erreicht Sonneberg inzwischen den Spitzenwert von ganz Thüringen; und bei der Arbeitsplatzdichte folge die Spielzeugstadt gleich hinter der "Autostadt" Eisenach auf Platz zwei.

Noch einmal zur Musik: Die "Golden Sixties Memory Band" spielte unter anderem "Wind of Change". Außerdem stand der Ost-Klassiker "Ich hab' noch lange nicht genug" von Ute Freudenberg auf dem Plan. Doch die Sängerin der Band war kurzfristig ausgefallen - was tun? Spontan übernahm einer der Männer den weiblichen Part. Und: Es funktionierte! Das passte somit zu dem, was zuvor Sibylle Abel angesichts der Bedingungen in der DDR gesagt hatte: "Die Mängel, die es gab, wurden von den Menschen mit viel Engagement ausgeglichen."