Druckartikel: 20 Kinder und vier schöne Wochen im Coburger Land

20 Kinder und vier schöne Wochen im Coburger Land


Autor: Rainer Lutz

Neustadt bei Coburg, Mittwoch, 14. Juni 2017

Seit Jahren holt die Tschernobyl-Kinderhilfe Neustadt Kinder aus der Katastrophenregion ins Coburger Land. Ohne Spenden geht das nicht.
Katrin und Dieter Wolf kleiden ihre jungen Gäste nach der Ankunft erst einmal von Kopf bis Fuß neu ein. Foto: Rainer Lutz


Die Tour mit einem Linienbus von Kiew nach Nürnberg würden sich wohl nicht viele Erwachsene für eine Reise aussuchen. Es ist eine fast zweitägige Strapaze. 20 Kinder aus der Katastrophenregion von Tschernobyl haben dieser Fahrt monatelang entgegengefiebert - dem größten Abenteuer ihres bisherigen Lebens. Am Sonntag sind sie im Pfadfinderhaus Fornbach eingetroffen. Die Tschernobyl-Kinderhilfe Neustadt will ihnen dort vier erlebnisreiche Wochen bescheren.
Etwa die Hälfte der Kinder kommt aus der Gegend um den Ort Fedoriwka. Angehörige mussten sie irgendwie ins rund 100 Kilometer entfernte Kiew bringen. Die andere Hälfte steigt in Riwne zu. Auch sie haben schon einen beschwerlichen Weg hinter sich. Dann geht es endlich gemeinsam in Richtung Deutschland, dem Land, von dem sie schon so viel gehört haben. Seit 17 Jahren schon holt Dieter Wolf mit seinem Verein Kinder zur Erholung nach Deutschland. Aber auch vor Ort helfen Wolf und seine Mitstreiter viel. Mehr als 40 Paketsendungen wurden schon auf den Weg gebracht. Um nützliches für den Alltag, vor allem auch Schulsachen in die Ukraine zu schicken muss der Verein je Sendung rund 15 000 Euro an Porto aufbringen.
Jahr für Jahr reist eine Gruppe der Kinderhilfe in das durch Krisen erschütterte Land. Es müssen Kinder ausgesucht werden, die im kommenden Jahr mit nach Deutschland dürfen. "Wir würden am liebsten immer alle mitnehmen, die uns die Helfer vor Ort zeigen, aber das geht halt nicht", sagt Dieter Wolf. 58 meist zerrüttete Familien haben die Neustadter im vergangenen Jahr besucht. Oft treffen sie auf Kinder die in Umständen leben müssen, die die Deutschen kaum fassen können.


Zerüttete Familien

Vielfach ist der Vater im Krieg in der Ostukraine, oder von dort traumatisiert zurückgekommen, arbeitslos, vielfach alkoholkrank. Alleinerziehende Mütter können ihren Kindern oft kaum das Nötigste geben, oder überlassen die Erziehung den nicht selten heillos überforderten Großeltern. Viele Menschen leiden noch unter den Folgen der Verstrahlung. "Einer der kleinen Jungen wird einfach in einen Schrank gesperrt, wenn die Eltern unterwegs sind, um sich zu betrinken", schildert Dieter Wolf ein Schicksal. Eines von vielen. Schön sind sie alle nicht. "Die Erfahrung zeigt uns, dass der Aufenthalt in Deutschland für viele Kinder eine Wende in ihrem Leben darstellt", sagt Wolf. Sie werden von Klassenkameraden bewundert, entwickeln ein neues Selbstwertgefühl, geben sich ein Ziel. Wolf berichtet von einem Mädchen, das später über einen Au-Pair-Aufenthalt in München den Weg aus der Elendsregion gefunden hat. Es gibt weitere. Das macht Wolf Mut, zwingt ihn geradezu, immer weiter zu machen.
"An der Grenze zu Polen musste der Bus mehrere Stunden warten, es wurde praktisch alle Verpflegung abgenommen", schildert Tanja die Reise. Sie ist als Betreuerin und Übersetzerin seit Jahren schon immer mit den Kindern unterwegs. "EU-Außengrenze, da darf keine Wurst oder so mitgenommen werden", erklärt Dieter Wolf. Es bleibt nur aufessen oder wegwerfen.
In Nürnberg holt Wolf die Kinder ab. Der Bus kommt vom Reiseunternehmen Thoenissen in Neustadt. Seit Beginn der Aktion chauffiert das Unternehmen die Kinder kostenlos. Im Pfadfinderhaus angekommen, beginnt für sie eine Zeit, die für die meisten kaum zu fassen ist. Sie werden eingekleidet, oft medizinisch betreut. Sie bekommen eine Verpflegung, die sie so von zu Hause nicht kennen. "Da gibt es auch keinen Tee. Wenn die Kinder bei uns sind dann darf es auch Limo sein", sagt Wolf und grinst. Mit den Jahren hat sich schon ein richtiger Stamm von Helfern und Wohltätern gebildet, der den Kindern einfach vier wunderbare Wochen ermöglichen will.


Großzügige Spender

"Thoenissen fährt uns kostenlos nach Geiselwind in den Freizeitpark und dort haben wir freien Eintritt", nennt Wolf nur ein Beispiel. Vereine wie der Countryclub Mountainlions in Neustadt oder die Frankenstrolche , ein Trucker-Club, nehmen sich der Kinder an. Die Feuerwehr Neustadt lädt sie ein. Gesangvereine gestalten einen lustigen Abend mit ihnen. Sie fahren zur Sommerrodelbahn und in den Zoo. Dazwischen dürfen sie unbeschwert spielen und einfach einmal ihre Not und ihre Sorgen vergessen. Wenn es Anfang Juli zurück geht in die Ukraine, dann hat jedes Kind mehrere Kartons mit Sachen dabei - auch für die Familie. So wirkt der Aufenthalt noch lange nach.


Ab zwölf Jahren gehts nicht mehr

Alle Kinder sind zwischen neun und elf Jahre alt. "Wenn sie zwölf sind, müssen sie vor der Reise schon nach Kiew, damit Fingerabdrücke genommen werden", sagt Tanja. "Seit einem Jahr gelten sehr strenge Bestimmungen, bestätigt Wolf. Auch für die Kleinen sind sie schwer genug zu erfüllen. Oft kann ein Kind nicht mit, weil irgendein Dokument nicht genau so ist, wie es die Behörden haben wollen. Dann setzt Dieter Wolf alles daran, dieses Kind im Jahr darauf mitzunehmen. "Das ist doch so eine Enttäuschung, das kann man sich gar nicht vorstellen", sagt er. Doch jetzt gilt alle Kraft der Helfer den 20 Kindern, die es geschafft haben, nach Franken zu kommen - bis zu ihrer Abreise. Dann beginnt schon wieder die Arbeit für die nächste Reise in die Ukraine und den kommenden Aufenthalt von 20 Kindern.


Nach der Fahrt ist vor der Fahrt

Und es beginnt das verzweifelte Ringen mit der Bürokratie und um Spenden. "Letztes Jahr haben wir rund 42 000 Euro gebraucht, nur für den Erholungsaufenthalt, ohne alles andere", rechnet Wolf vor. Die Zuversicht verliert angesichts solcher Summen nicht: "Irgendwie haben wir es bisher immer geschafft." 


Spendenkonto

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