Hirnschädigung: Was wird aus dem Kind?
Autor: Irmtraud Fenn-Nebel
Bayreuth, Donnerstag, 11. Juni 2015
Patienten und Betroffene fühlen sich mit ihren Problemen oft alleingelassen. Die Bayreutherin Andrea Lauterbach will helfen: Sie hat die Initiative Morgenrot gegründet.
Nennen wir sie Anna*. Mit 16 Jahren passierte ihr auf dem Schulweg ein so schlimmer Unfall, dass sie dauerhaft beeinträchtigt blieb: Anna hat eine erworbene Hirnschädigung. Äußerlich sieht man ihr nicht an, dass sie sich kaum mehr als zehn Minuten merken kann. Oder Max*, der Student, der vor sechs Jahren eine entzündliche Erkrankung im Gehirn erlitt - mühsam kämpft er sich ins Leben zurück. So unterschiedlich die Ursachen für eine erworbene Hirnschädigung sind, so eindeutig sind die Auswirkungen: "Ein Augenblick und nichts ist, wie es war", sagt Andrea Lauterbach.
Ihr Sohn war vor fünf Jahren nach einem Unfall beim Sport so stark beeinträchtigt, dass er alles neu lernen musste. Heute ist der 19-Jährige soweit gesund, dass er selbst entscheidet, seinen Namen nicht in der Zeitung lesen und auch nicht fotografiert werden zu wollen. Aber damals - Lauterbach erinnert sich mit ernstem Gesicht und wiegt leicht ihren blonden Lockenkopf. "Das Ausmaß der Folgeerscheinungen war erst im Laufe von Wochen erkennbar."
Noch heute hallt in ihren Ohren der schlimmste Satz nach, den sie 2010 immer wieder von verschiedenen Medizinern hörte: "Wir können Ihnen nicht sagen, ob und wohin sich Ihr Sohn entwickeln wird und wie lange es dauern kann."
Es dauerte. Sehr, sehr lang. Fünf Wochen Intensivstation, Aufenthalte in einer neurologischen Tagesklinik, stationäre Reha. Schnell waren sieben Monate um. Danach begann die häusliche Langzeitrehabilitation, die bis heute andauert. Schon früh erkannte Andrea Lauterbach, dass Patienten mit einer erworbenen Hirnschädigung und deren Angehörige nach der Akutphase aus dem Gesundheitssystem rotieren. Die Familien würden alleingelassen. "Die Telefonate, in denen ich die Therapien für meinen Sohn organisieren musste, waren nicht mehr zählbar. Wenn überhaupt reagiert wurde, dann waren die Auskünfte mehr als dürftig. Teilweise bekam ich erst nach Monaten Rückmeldungen."
Behinderten-Einstufung fehlt
An diesem Missstand hat sich laut Lauterbach bis jetzt nichts geändert. "Es gibt derzeit keine Regelungen für die häusliche Reha", sagt sie. "Es fehlen passenden Maßnahmen für eine bestmögliche und zeitnahe Förderung, realistische Chancen im Bildungs- und Arbeitsbereich und eine Behinderteneingruppierung."
Die passende Einstufung "MeH" sei erst am Entstehen. Deshalb würden die speziellen Bedarfe nicht getragen oder wahrgenommen. "Familien sind nach kurzer Zeit völlig überfordert, die Probleme häufen sich." Viele Angehörige verlieren ihre Arbeit; gerade junge Menschen mit MeH können nicht mehr oder nur mit Mühe zurück in Schule, Ausbildung oder Uni. "Das soziale Umfeld kann die Tragweite der Situation kaum verstehen. Den Familien droht die Isolierung."
Die Erfahrungen, die Lauterbach als Mutter auf diesem steinigen Weg gemacht hat, ließen sie aktiv werden: Sie gründete die Initiative Morgenrot, seit Januar ein eingetragener Verein in Bayreuth. Die Vereinsräume befinden sich in einer umgebauten Mühle, in der Lauterbach auch ihre Praxis als Heilpraktikerin für Psychotherapie hat. Gemeinsam mit acht Gründungsmitgliedern hat sie sich zum Ziel gesetzt, Menschen mit erworbener Hirnschädigung und deren Angehörige zu unterstützen.
Familien verschulden sich
Deshalb kümmert sich der Verein auch um Menschen wie Anna und Max. Anna ist rund um die Uhr auf Hilfe angewiesen und wird von ihrer Mutter betreut, sie kann nicht mehr zur Schule gehen, hat keine Freunde. "Die kleine Familie wünscht sich dringend mehr Unterstützung", sagt Lauterbach. Und Max? Nach unzähligen Therapiestunden ist seine Gesundheit soweit hergestellt, dass er sogar einen Arbeitsplatz gefunden hat. "Um diese Fortschritte erzielen zu können, haben sich die Eltern verschuldet", sagt Lauterbach. "Sie suchen nun Möglichkeiten, diese finanziellen Mittel für eine erfolgreiche Rehabilitation zurückzubekommen."
Dabei und bei allen anderen Problemen, die die Betroffenen haben, möchte die Initiative Morgenrot helfen. "Unser Fokus liegt auf jungen Menschen, weil sie einen besonderen Bedarf haben", sagt die Vorsitzende Lauterbach. "Wir sind aber generell offen für alle Menschen mit erworbener Hirnschädigung und ältere Patienten zum Beispiel nach einem Schlaganfall".
Der Verein hat zum Ziel, die Wiedereingliederung ins häusliche Umfeld zu ermöglichen und zu unterstützen. Auch bei Rehamaßnahmen und finanziellen Fragen möchte Morgenrot helfen, Kurse für Angehörige organisieren, die Gesellschaft für diese spezielle Erkrankung sensibilisieren und ein bundesweites Netzwerk aufbauen, "das Betroffenen gebündelt Infos geben kann". Mit der Bayreuther Universität sind Inklusionsprojekte geplant, außerdem forciert Lauterbach die Einrichtung einer Beratungsstelle in Bayreuth, die überregional tätig sein soll. Für all das braucht der Verein Geld, das die Vorsitzende von Politik und Gesundheitssystem fordert. "Wir brauchen Fonds für Menschen mit erworbener Hirnschädigung."
Wie weit sich ein Patient rehabilitiert, hängt von der individuellen Förderung ab. Das hat Andrea Lauterbach schnell erkannt und ungeachtet ihres emotionalen und finanziellen Aufwands alle erdenklichen Optionen ausgelotet. Der Einsatz hat sich gelohnt: Ihr Sohn geht wieder zur Schule. Wenn es klappt, macht er in zwei Jahren sein Abitur.
* Die Namen wurden von der Redaktion geändert.
Infotag für Betroffene und Interessenten
Auftaktveranstaltung Am Samstag, 27. Juni, veranstaltet die Initiative Morgenrot einen Infotag für Betroffene, Angehörige und Interessenten. Von 10 bis 15.30 Uhr gibt es in der Hölzleinsmühle 1, 95448 Bayreuth, Vorträge zur erworbenen Hirnschädigung, zu Therapie und Notwendigkeit von Beratungsstellen.
Kontakt Wer Unterstützung bei der Bewältigung der Erkrankung braucht, sich für die Arbeit des Vereins interessiert oder ihn finanziell unterstützen möchte, kann sich unter Tel. 0921/23052115 oder per Mail unter info@initiative-morgenrot.de melden, Internet: www.initiative-morgenrot.de.