Der Bus macht Sprünge auf der Böschung neben der A9 bei Leipzig. Engel wird durchgeschleudert, sieht Rucksäcke, Scherben und nichtangeschnallte Mitfahrer durch den Bus fliegen. Schließlich kippt der Doppeldecker zurück auf die Autobahn, auf die linke Seite - die, auf der Engel sitzt. "Erstmal habe ich meinen Kopf geschützt." Dann stellt er fest: Sein rechter Arm hängt seltsam weg. Ob er sich in der Lehne verkeilt hat oder von einem umherfliegenden Gepäckstück oder gar Körper getroffen worden ist, weiß Engel nicht. Fest steht nur: Er kann ihn nicht bewegen. Und was ihn beim Unfall schützte, wird nun zur Falle: Engel kann sich nicht selbst aus dem Gurt befreien.
Er sieht sich um. "Wie in einem Katastrophenfilm: überall Scherben und blutüberströmte Menschen." Er beginnt, um Hilfe zu schreien. "Man liegt auf der Autobahn und kommt nicht weg. Wenn da einer reinkracht, ist es aus. Dazu kamen mir noch die Bilder von einem ausgebrannten Lkw in den Kopf. " Es riecht verkohlt. Ob tatsächlich oder nur in seiner Fantasie, kann er nicht sagen. Klar ist: "Ich muss da raus!" Noch immer könne er diese Panik spüren. In Todesangst werden seine Schreie lauter - bis sein Sitznachbar, der wegen des gesplitterten Seitenfensters auf dem Asphalt liegt, reagiert.
"Plötzlich schnallt er sich los, springt auf, blutverschmiert, Glassplitter am Kopf und in den Armen, und hilft mir beim Abschnallen." Danken wird er ihm später. "In diesem Moment habe ich nur an meine Familie gedacht und bin da weg, über die Leute am Boden. Einfach nur raus, egal wie." Durch die Frontscheibe ragt die Leitplanke in den Gang. Engel wuchtet sich darüber, nach draußen.
Erst jetzt spürt er den Schmerz. Dann kommt eine Mitfahrerin zu ihm, mit blutiger Nase. Die Ärztin, mit der er heute noch Kontakt pflegt, sagt: "Wie heißt du? Ich bin jetzt deine Freundin". Sie bringt ihn in eine stabile Position, überprüft seinen Bewusstseinszustand. Dann hilft sie anderen. Dass sie sich selbst einen Wirbel angebrochen hat und nur knapp einer Querschnittslähmung entging, erfährt Engel erst später.
Zunächst spricht er seiner Frau auf die Mailbox: "Mach dir keine Sorgen! Mir geht es gut." Dann heulen die Sirenen und blinken die Blaulichter: 56 Rettungswagen, acht Hubschrauber sowie zahlreiche Feuerwehrleute und Polizisten. Die Verletzten werden auf 14 Krankenhäuser verteilt. Die Einsatzkräfte bauen Versorgungszelte und sortieren die Passagiere: Blau für leichtere, gelb für schwerere, rot für lebensgefährliche Verletzungen. Unverletzt ist keiner. Engel bekommt gelb - und wird dann über eine Stunde lang von Zelt zu Zelt geschickt. "Das soll kein Vorwurf sein, aber ich wollte mich in dem Moment einfach nur mal setzen. Und dann endlich da weg."
Zunächst wird er nach Merseburg ins Krankenhaus gebracht. Dort kümmert er sich darum, wie er sein Gepäck zurück bekommt. Eine langwierige Prozedur, mit der er noch immer beschäftigt ist. Dann spricht er mit dem Arzt, der ihn in Bayreuth operieren wird. "Es ist kompliziert, aber wir kriegen das hin", sagt der Arzt. "Sowas ist Gold wert für die Seele", sagt Engel. Mit einer Platte und 15 Schrauben wurde sein fünffach in der Länge und einmal in der Breite gebrochener Oberarmknochen stabilisiert. Dabei wurde auch sein Trizeps der Länge nach gespalten und wieder zugeklammert. Die Schrauben bleiben ein Jahr lang in seinem Arm. "Dass das wieder zusammenwächst, ist schon ein Wunder."